Die Folgen fehlender elterlicher Fürsorge

Weibchen des Europäischen Ohrwurms (Forficula auricularia) mit ihren Jungen © Joël Meunier

Weibchen des Europäischen Ohrwurms (Forficula auricularia) mit ihren Jungen © Joël Meunier

Ein Verlust der Eltern hat bei Jungtieren, die auf Brutpflege angewiesen sind, oft gravierende Folgen und kann einem Todesurteil gleichkommen. Am Beispiel von Ohrwürmern haben Forscher nun untersucht, wie sich eine fehlende Brutfürsorge auf Tiere auswirkt, die nicht zwingend auf sie angewiesen sind. Zur Überraschung der Forscher waren Ohrwürmer, die ohne mütterliche Fürsorge aufwuchsen, größer als solche, die von einem Muttertier umsorgt wurden. Gegenüber ihren eigenen Nachkommen erwiesen sie sich jedoch als weniger fürsorglich. Darüber hinaus wirkte sich der Mangel an Brutpflege sogar noch negativ auf die Enkelgeneration aus. Der Verlust der Mutter geht bei Ohrwürmern also mit kurzfristigen Vorteilen einher, die jedoch von den langfristigen Kosten überwogen werden. Durch ihre Forschung hoffen die Forscher mehr darüber zu lernen, wie sich Sozialverhalten und Familienleben im Laufe der Evolution entwickelt haben.

Familienleben ist ein in der Natur weit verbreitetes Phänomen, das normalerweise mit deutlich besseren Überlebenschancen für die Nachkommen verbunden ist. Bisher wurde der langfristige und generationenübergreifende Nutzen jedoch nur bei Wirbeltieren untersucht, deren Junge meist kaum dazu in der Lage sind sich selbständig mit Futter zu versorgen und daher massiv von den Elterntieren abhängig sind. Die Erforschung von wirbellosen Tieren, die sich schon frühzeitig selbst versorgen können und eine elterliche Fürsorge nicht zwingend benötigen, könnten wichtige Hinweise zum Verständnis der evolutionären Entwicklung von Familienleben liefern.

Weibchen des Europäischen Ohrwurms (Forficula auricularia) in Verteidigungshaltung über ihren Eiern. © Joël Meunier

Weibchen des Europäischen Ohrwurms (Forficula auricularia) in Verteidigungshaltung über ihren Eiern. © Joël Meunier

Wie Forscher der Universität Mainz feststellten, hat eine mangelnde Brutfürsorge beim Europäischen Ohrwurm (Forficula auricularia) keinen Einfluss auf die Entwicklungsdauer und Überlebenschancen der Jungtiere. „Überraschenderweise sind die Nachkommen sogar größer und haben längere Zangen am Hinterleib. Der Verlust der Mutter ist unter unseren Laborbedingungen positiv und nicht negativ, wie wir es von Säugetieren kennen und auch im Falle der Ohrwürmer erwartet hätten“, erklärt Jos Kramer von der Universität Mainz.

Doch die Ohrwürmer, die ohne Mutter aufgewachsen sind, leisten selbst weniger Brutfürsorge. „Sie kümmern sich generell schlechter um ihren Nachwuchs, sie füttern weniger und verteidigen ihre Kinder weniger effektiv“, so Julia Thesing, ebenfalls Teil des Forscherteams aus Mainz. Derartige Folgen mangelnder Brutfürsorge kannte man bisher nur von Wirbeltieren.

Um zu testen, ob sich die fehlende Brutpflege bis in die übernächste Generation auswirkt schoben die Forscher normal aufgewachsenen Ohrwurmweibchen die Jungen von Tieren unter, die ohne Brutpflege aufgewachsen waren. Wie sich zeigte, verteidigten die Pflegemütter die Jungen von alleine aufgewachsenen Tieren weniger heftig, als solche, die von Tieren abstammten, die Brutpflege genossen hatten.  Die längerfristigen und generationenübergreifenden negativen Auswirkungen überwiegen also die kurzfristigen, positiven Folgen mangelnder Brutpflege. „Man ist früher davon ausgegangen, dass sich solche Effekte der Brutpflege nicht weiter vererben, aber wie wir hier sehen, gibt es tatsächlich eine – möglicherweise epigenetische – Übertragung“, so Kramer.

Demnach könnten generationenübergreifende Effekte bei der frühen Entwicklung von Familienleben eine zentrale Rolle gespielt haben. Gerade Ohrwürmer eignen sich für diese Untersuchungen besonders gut, da sie ein einfaches und nicht obligatorisches Familienleben aufweisen und gewissermaßen eine Brücke zwischen solitären und familiären Überlebensstrategien bilden.

Universität Mainz, 12.11.2015

 

Originalpublikation:

J. Thesing et al., Short-term benefits, but transgenerational costs of maternal loss in an insect with facultative maternal care, Proceedings of the Royal Society B 282:1817, 21. Oktober 2015,  DOI:10.1098/rspb.2015.1617

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