Staudämme statt Gletscher?

Die Alpen und ihre Gletscher sind das Wasserschloss Europas. Schwindet das «ewige» Eis, könnte das Wasser in den Sommermonaten knapp werden. Warum nicht die abnehmende Speicherwirkung der Gletscher mit neuen Stauseen kompensieren?

Der Rhone-Gletscher mit natürlichem Schmelzwasser-See. © Matthias Huss / ETH Zürich

Der Rhone-Gletscher mit natürlichem Schmelzwasser-See. © Matthias Huss / ETH Zürich

Unsere Alpengletscher sind wichtige Wasserspeicher. Sie helfen, den Abfluss in den Strömen Europas auszugleichen. Seit 1980 gaben die Gletscher jedes Jahr ein Wasservolumen ab, das ausreichen würde, um den Zürichsee mehr als einmal komplett aufzufüllen. Mit der Klimaerwärmung werden die alpinen Eismassen jedoch bis 2100 fast komplett abschmelzen, und der Wasserabfluss wird in heissen und trockenen Sommermonaten stark abnehmen – die Folgen für die Wasser-, Energie- und Landwirtschaft könnten verheerend sein.

Doch vielleicht birgt der Gletscherrückgang auch Chancen. Wenn das Gletschereis in den nächsten Jahrzehnten schmilzt, werden diese Flächen frei und könnten «umgenutzt» werden. Wagen wir also ein Gedankenspiel: Lässt sich die hydrologische Funktion der Gletscher im heutigen Wasserkreislauf durch Staudämme ersetzen? Eine provokante Frage, die wir – ein Forscherteam aus der Schweiz und Italien – in einer neuen Studie untersucht haben [1] (siehe auch die Medienmitteilung der WSL [2]).

Ein Modell des Gornergletschers bei Zermatt mit virtuellem Stausee, visualisiert in Google Earth. © Daniel Farinotti / WSL Birmensdorf

Ein Modell des Gornergletschers bei Zermatt mit virtuellem Stausee, visualisiert in Google Earth. © Daniel Farinotti / WSL Birmensdorf

Schmelzwasser stauen im Gletschermodell

Um das Potential von neuen Stauseen zu analysieren, verwendeten wir ein Gletschermodell, das die Entwicklung aller rund 4’000 Gletscher in den Alpen und ihres künftigen Abflusses bis zum Ende des 21. Jahrhunderts beschreibt, und platzierten virtuell Staudämme beim heutigen Ende jedes Gletschers. Unsere Berechnungen zeigen, dass so etwa ein Kubik-Kilometer Gletscherwasser – oder eine Billion Liter – innerhalb des Jahres umverteilt werden kann. Damit ist es möglich, rund zwei Drittel des erwarteten Abflussrückgangs im Sommer zu kompensieren. Konkret bedeutet das, dass man in Zukunft die immer noch beträchtlichen Abflussmengen im Frühsommer in neuen Stauseen speichern könnte, um sie während des Hochsommers – in einer Zeit mit weniger natürlichem Gletscher-Abfluss – wieder frei zu geben. Tatsächlich würde, verteilt über die Alpen, schon etwa ein Dutzend großer neuer Dämme an heutigen Gletscherenden ausreichen, um dieses Ziel zu erfüllen.

Der Griessee wird vom Griesgletscher gespeist und ist einer der am höchsten gelegenen Stauseen in der Schweiz. © Christoph Hurni. CC BY-SA 2.0.

Der Griessee im Wallis wird vom Griesgletscher gespeist und ist einer der am höchsten gelegenen Stauseen in der Schweiz. © Christoph Hurni. CC BY-SA 2.0.

Schattenseiten des Gedankenspiels

Natürlich ist uns bewusst, dass neu errichtete große Talsperren an Gletscherzungen zahlreiche ökonomische und ökologische Probleme mit sich bringen. Man denke nur schon an die schwierige Verteilung des Wassers zwischen den einzelnen Regionen. Die Resultate machen zudem deutlich, dass durch Stauseen ersetzte Gletscher nur einen Teil der negativen Konsequenzen des Klimawandels in Bezug auf die Wasserverfügbarkeit lindern. Die Auswirkungen der Klimaänderung mit technischen Mitteln vollständig «korrigieren» zu können, ist eine Illusion.

Dennoch zeigt unsere Studie, dass Gletscherrückgang auch neue Möglichkeiten für die Bewirtschaftung des Wasserschlosses Europas eröffnet. Es bräuchte allerdings genaue Absprachen zwischen sämtlichen Akteuren, die das wertvolle Wasser aus den Alpen für verschiedenste Zwecke nutzen wollen.

von Dr. Matthias Huss, ETH Zürich, 20 Mai 2016

Originalpublikation:

[1] Farinotti, D., Pistocchi, A., and Huss, M. From dwindling glaciers to headwater lakes: Can dams replace glaciers in the European Alps? Environmental Research Letters. DOI: 10.1088/1748-9326/11/5/054022

[2] Medienmitteilung der WSL

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