Wie unser Gehirn eine stabile Wahrnehmung gewährleistet

Aktive Nervenzellen der visuellen Großhirnrinde der Maus bei veränderten Sinneseindrücken. Die Bilder einer Reihe zeigen jeweils eine einzige Nervenzelle. Jedes Teilbild eines Farbblocks entspricht einer Untersuchung (insgesamt 10) über 2 Monate hinweg: Die Teilbilder des linken Blocks (gelb/rot) zeigen die Struktur einer Nervenzelle. In den mittleren beiden Blöcken entsprechen die Farben der Stärke der Antwort einer Zelle auf Sehreize unterschiedlicher Orientierung. Der zweite Block repräsentiert das Auge, das der untersuchten Hirnhälfte gegenüber liegt (hier: das linke Auge). Der dritte Block entspricht dem rechten Auge. Der rechte Block (blau/rot) stellt die relative Antwortstärke der Zellen bei der Stimulation des dominanten linken (kontralateral) relativ zum rechten Auge (ipsilateral) dar (kontralaterale: blau, ipsilaterale: rot, binokulare Dominanz: weiß). Nach Verschluss des linken kontralateralen Auges nach der 3. und 7. Untersuchung reagieren einige Zellen auf das offengebliebene Auge stärker und erscheinen dadurch rot. © MPI f. Neurobiologie/ Rose

Aktive Nervenzellen der visuellen Großhirnrinde der Maus bei veränderten Sinneseindrücken. Die Bilder einer Reihe zeigen jeweils eine einzige Nervenzelle. Jedes Teilbild eines Farbblocks entspricht einer Untersuchung (insgesamt 10) über 2 Monate hinweg:
Die Teilbilder des linken Blocks (gelb/rot) zeigen die Struktur einer Nervenzelle. In den mittleren beiden Blöcken entsprechen die Farben der Stärke der Antwort einer Zelle auf Sehreize unterschiedlicher Orientierung. Der zweite Block repräsentiert das Auge, das der untersuchten Hirnhälfte gegenüber liegt (hier: das linke Auge). Der dritte Block entspricht dem rechten Auge.
Der rechte Block (blau/rot) stellt die relative Antwortstärke der Zellen bei der Stimulation des dominanten linken (kontralateral) relativ zum rechten Auge (ipsilateral) dar (kontralaterale: blau, ipsilaterale: rot, binokulare Dominanz: weiß). Nach Verschluss des linken kontralateralen Auges nach der 3. und 7. Untersuchung reagieren einige Zellen auf das offengebliebene Auge stärker und erscheinen dadurch rot.
© MPI f. Neurobiologie/ Rose

Unser erwachsenes Gehirn hat gelernt, aus den Informationen der Sinnesorgane ein Bild der Umwelt zu berechnen. Verändern sich die Eingangssignale, so kann es sich an diese anpassen. Sobald die Störung jedoch wieder behoben ist, kehrt es im Idealfall zu seinem ursprünglichen Aktivitätsmuster zurück. Forscher konnten nun bei Mäusen zeigen, dass diese Eigenschaft auf der Fähigkeit einzelner Nervenzellen beruht. Die Ergebnisse demonstrieren, dass sich einzelne Zellen einerseits stark auf Veränderungen einstellen, andererseits aber auch wieder ihren Ausgangszustand einnehmen können. Dies könnte erklären, warum unser erwachsenes Gehirn trotz der zahlreich auftretenden Veränderungen nicht ständig alles neu erlernen muss.

Alles, was wir über unsere Umwelt wissen, beruht auf Berechnungen unseres Gehirns. Während das kindliche Gehirn die Regeln der Umwelt erst noch erlernen muss, weiß das erwachsene Gehirn, was es erwarten kann, und verarbeitet Umweltreize weitgehend stabil. Doch auch das erwachsene Gehirn muss ständig auf Veränderungen reagieren, neue Erinnerungen bilden und lernen – es ist „plastisch“. In den letzten Jahre hat sich gezeigt, dass die Grundlage für diese Plastizität in Veränderungen von Nervenzellverbindungen liegt. Doch wie kann das Gehirn seine Verbindungen kontinuierlich verändern und lernen, ohne bestehende, stabile Berechnungen der Umwelt zu gefährden? Dieser Frage nach dem Zusammenspiel von Plastizität und Stabilität ist nun ein Team von Neurobiologen um Tobias Bonhoeffer am Max-Planck-Institut in Martinsried auf den Grund gegangen.

Die Wissenschaftler haben untersucht, wie stabil die Verarbeitung von Sinneseindrücken im visuellen Cortex der Maus ist. Seit rund 50 Jahren weiß man, dass bei einem vorübergehend verschlossen Auge der für dieses Auge zuständige Gehirnbereich zunehmend Signale aus dem noch offenen Auge verarbeitet. Diese Erkenntnis macht man sich schon lange bei der Behandlung schielender Kinder mit einem Augenpflaster zunutze. „Dank neuer genetischer Farbstoffe ist es seit kurzem möglich, die Aktivitätssignale einzelner Nervenzellen über lange Zeiträume hinweg zuverlässig zu beobachten“, berichtet Tobias Rose, der Erstautor der Studie. „Mit ein paar weiteren Verbesserungen konnten wir nun erstmals zeigen, was im Gehirn bei diesen Veränderungen passiert.“

Rückkehr zu alten Mustern

Durch das Mikroskop konnten die Forscher beobachten, dass rund zwei Drittel der Nervenzellen Signale aus dem anderen, offenen Auge übernehmen. „Das wirklich Spannende war jedoch, dass diese Zellen wieder zu ihrer Ursprungsaktivität zurückkehrten, sobald sie wieder Informationen von „ihrem“ Auge erhielten“, berichtet Tobias Rose. Auch bei Wiederholung des Experiments veränderten sich genau dieselben Zellen. Aufgrund der großflächigen Veränderungen in den für die beiden Augen zuständigen Hirnbereichen hatten die Forscher eigentlich erwartet, dass der Zellverband die erneut eintreffenden Informationen durch neue Verbindungen und das Rekrutieren von neuen Zellen kompensiert. Doch diese Annahmen wurde durch die Versuchsergebnisse widerlegt. „Es ist fast so, als könnten sich die einzelnen Zellen daran erinnern, wo sie welche Verbindungen vor dem Augenverschluss hatten, um diese dann wieder zu rekonstruieren“, so Rose.

Die Ergebnisse legen nahe, dass Nervenzellen, die auf Veränderungen reagieren, einzelne stabile Verbindungen haben, die ihnen eine Rückkehr in ihren ursprünglichen Zustand erlauben. Dies würde es dem erwachsenen Gehirn erlauben, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, ohne dass sich die Grundverdrahtung komplett verändert. „Solche „Rückgratsynapsen“ wurden vor einiger Zeit in theoretischen Studien postuliert“, sagt Tobias Bonhoeffer. „Sie konkret nachzuweisen, wird nun die nächste Herausforderung sein.“ Doch dies ist nicht die einzige Aufgabe, die vor den Forschern liegt: Ein Drittel der Zellen veränderte sich entweder gar nicht, oder verhielt sich im Widerspruch zu klassischen Theorien. „Wir wissen noch nicht genau warum sich diese Zellen so verhalten, aber wir haben schon Ideen, die wir jetzt noch testen müssen“, freut sich Tobias Bonhoeffer auf die weitere Forschung.

Max-Planck-Gesellschaft, 9 Juni 2016.

Originalpublikation:

Tobias Rose, Juliane Jaepel, Mark Hübener, Tobias Bonhoeffer Cell-specific restoration of stimulus preference after monocular deprivation in visual cortex. Science, online am 10. Juni 2016. DOI: 10.1126/science.aad3358

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