Einem internationalen Forscherteam ist es gelungen die Einzigartigkeit von Schreien nachzuweisen. Wie sie in ihrer Studie heraus fanden besitzen Schreie ganz außergewöhnliche akustische Eigenschaften: Das macht sie zu einer besonderen Lautäußerung, die nur unter Stress und bei Gefahr eingesetzt wird.
„Jeder kennt Schreie und jeder hat eine ungefähre Vorstellung davon, was Schreie ausmacht – sie sind laut, hoch und schrill“, sagt David Poeppel, Direktor am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt und Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der New York University. „Aber das allein reicht nicht aus. Tatsächlich ist es so, dass Schreie eine Art akustische Nische besetzen, die sie von anderen Lauten unterscheidet. Sie können, wie andere Laute hoch und laut sein, aber zudem haben sie eine einzigartige Modulation, die andere Laute nicht aufweisen.“
In mehreren Studien, die Poeppel gemeinsam mit seinem New Yorker Kollegen Adeen Flinker sowie Luc Arnal, Andreas Kleinschmidt und Anne-Lise Giruad von der Universität Genf durchführte, entdeckten die Forscher eine akustische Besonderheit, die nur Schreien eigen ist. „Schreie haben ein Merkmal, das als `Rauigkeit´ bezeichnet wird. Rauigkeit entsteht, wenn Geräusche eine zeitliche Struktur durch Änderung der Amplitude oder der Frequenz erhalten. Wenn diese Änderungen sehr schnell erfolgen, ist das Gehör nicht mehr in der Lage, diese zeitlichen Veränderungen ‚aufzulösen‘ – man empfindet ein solches Geräusch dann als rau und damit als unangenehm. Normale Sprache hat eine Modulationsfrequenz von etwa 4 bis 5 Hz, aber für Rauigkeit liegt die Frequenz zwischen 30 und 150 Hz – die zeitlichen Veränderungen sind also wesentlich schneller.“
In einer Studie erstellten die Forscher eine Geräuschdatenbank, die viele verschiedene Arten von menschlichen Lauten umfasste (wie Schreie und Sätze) und künstliche Töne (zum Beispiel der Alarm eines Weckers). Dabei fanden sie heraus, dass sowohl Schreie als auch künstliche Töne, wie die des Alarms eines Weckers und dissonante Intervalle, wie eine unreine, Quinte, in den Frequenzbereich der Rauigkeit fallen (30-150 Hz). Ein Ergebnis das zeigt, dass die Hersteller von Weckern mit ihrem Alarmton sehr gut die Modulation eines menschlichen Schreies nachempfunden haben.
Diese Ergebnisse wurden von Laborexperimenten gestützt, in welchen gezielt Geräusche sowohl von Männern als auch von Frauen aufgenommen wurden: Schreie, geschriene Sätze („Direkt hinter dir!“), Vokalisierungen ohne konkrete Bedeutung („aahhhhhh“) und normal gesprochene Sätze. Auch hier konnte wieder gezeigt werden, dass Schreie und geschriene Sätze in die „Rauigkeitsdomäne“ fielen, andere Laute dagegen nicht.
Um diese Ergebnisse zu stützen, wurde eine weitere Gruppe von Personen gebeten, diese Geräusche (wie Schreie, Alarme) zu hören und anschließend zu beurteilen, welche sie als „alarmierend“ bewerten würden. Die Ergebnisse zeigten: Schreie und Alarmgeräusche werden als umso beängstigender beschrieben, je höher das Rating auf der Rauigkeitsskala lag.
Um abschließend zu sehen, wo das Gehirn diese Geräusche verarbeitet, zeichneten die Wissenschaftler die Gehirnaktivität der Versuchspersonen mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) auf, während sie die Geräusche hörten. Sowohl die Schreie, als auch die Alarmgeräusche erhöhten die Aktivität der Amygdala, eine Region im Gehirn, die unter anderem für die Verarbeitung und die Erinnerung von Gefahren steht. „Unsere Ergebnisse zeigen im Ganzen“, so Poeppel, „dass Schreie eine bevorzugte akustische Nische belegen. Das stellt ihre biologische und letztendlich ihre soziale Wirkung sicher – wir schreien nur, wenn wir müssen.“
Es ist zu vermuten, dass viele Alarmrufe von Tieren ebenfalls dieses Rauheits-Kriterium erfüllen. Es wäre interessant das durch ähnliche Studien zu untersuchen (Anmerkung der Redaktion von Scimondo).
Max-Planck-Gesellschaft, 16. Juli 2015
Originalpublikation:
L. H. Arnal, A. Flinker, A. Kleinschmidt, A. Giraud, D. Poeppel. Human Screams Occupy a Privileged Niche in the Communication Soundscape. Current Biology, Online Advance Publication, 16 July 2015. DOI: 10.1016/j.cub.2015.06.043