Wollen wir unsere persönliche Zukunft wirklich wissen?

Kassandra gemalt von Evelyn De Morgan (1855–1919). In der griechischen Mythologie ist die Seherin Kassandra dazu verflucht, dass keiner ihr Glauben schenkt. Nach heutiger Forschung nicht verwunderlich – ziehen es doch die meisten Menschen vor, ihre persönliche Zukunft nicht zu kennen. © public domain. Wikimedia Commons.

Wer möchte schon wissen, wann er sterben wird? Die meisten von uns lehnen dies ab. Würden wir vor die Wahl gestellt, in die Zukunft zu sehen, wollen wir lieber nicht wissen, was das Leben für uns bereithält. Selbst dann nicht, wenn es etwas Positives ist, wie Psychologen nun herausgefunden haben.

„In der griechischen Mythologie hatte Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs, die Gabe, in die Zukunft sehen zu können. Aber sie war auch dazu verflucht, dass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenkte“, sagt Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „In unserer Studie haben wir herausgefunden, dass Menschen die Sehergabe, die Kassandra berühmt machte, eher ablehnen und auf Wissen über ihre persönliche Zukunft lieber verzichten. Dahinter steht das Bestreben, mögliches Leid und Bedauern zu umgehen, welches das Wissen über die Zukunft mit sich bringen könnte. Gleichzeitig möchten sie sich aber auch die freudige Spannung von schönen Erlebnissen erhalten.“

Laut den Forschern wollen 86 bis 90 Prozent der Menschen bevorstehende negative Ereignisse nicht wissen. Das ergaben zwei repräsentative Umfragen mit mehr als 2.000 Teilnehmern die jewiels in Deutschland und Spanien durchgeführt wurden. Und 40 bis 77 Prozent wollen selbst zukünftige positive Ereignisse nicht wissen. Die Forscher sprechen von willentlicher Ignoranz (engl. deliberate ignorance), wenn sich jemand bewusst dafür entscheidet, die Antwort auf eine Frage, die ihn persönlich betrifft, nicht wissen zu wollen. Lediglich ein Prozent aller Befragten wünschte konsequent zu wissen, was die Zukunft für sie bereithält.

Menschen, die ihre Zukunft nicht kennen möchten, sind den Forschern zufolge auch risikoscheuer und schließen mehr Lebens- und Rechtsschutzversicherungen ab, als diejenigen, die gerne einen Blick in ihre persönliche Zukunft werfen würden. „Das legt nahe, dass Menschen, die Wissen über die Zukunft willentlich ignorieren, erwarten, unangenehme Nachrichten zu erhalten“, erklärt Gigerenzer. Bei dieser Entscheidung spielt jedoch auch der Zeitpunkt eine Rolle, zu dem das Ereignis in der Zukunft eintreten könnte: Je früher das Ereignis liegt, desto weniger wollen die meisten von uns darüber erfahren. So wollten etwa ältere Menschen im Vergleich zu jüngeren seltener wissen, wann und woran ihr Partner sterben wird.

Die Studienteilnehmer wurden zu einer Reihe möglicher Ereignisse – positiven wie negativen – befragt. Etwa, ob sie wissen wollten, welche Mannschaft in dem Fußballspiel gewinnen würde, das die Befragten später noch sehen wollten. Oder was sie zu Weihnachten geschenkt bekommen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder ihre Ehe in einer Scheidung endet. Das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes war das Einzige, das die Mehrheit der Befragten wissen wollte, nur 37 Prozent wollen sich überraschen lassen.

Obwohl die in Deutschland und Spanien lebenden Menschen sich in Alter, Bildung und anderen wichtigen Kriterien unterschieden, trat in beiden Ländern das gleiche Muster der willentlichen Ignoranz auf. „Man geht immer davon aus, dass Wissen zu wollen der Normalzustand der Menschheit ist und keiner Rechtfertigung bedarf. Menschen werden dazu aufgefordert, an Krebsfrüherkennungsmaßnahmen oder regulären Gesundheitschecks teilzunehmen, ihr ungeborenes Baby einer Reihe von pränatalen Gentests zu unterziehen oder Self-Tracking-Geräte zur Messung der eigenen Gesundheit zu nutzen“, sagt Gigerenzer. „Die willentliche Ignoranz von Menschen scheint vor diesem Hintergrund nicht einleuchtend und stößt vielleicht auf Unverständnis. Aber wie wir in unserer Studie zeigen konnten, existiert diese Ignoranz nicht nur, sondern sie ist sogar weit verbreitet.“

Max-Planck-Gesellschaft, 22. Februar 2017

Originalpublikation:

Gigerenzer G, Garcia-Retamero R. Cassandra’s regret: The psychology of not wanting to know. Psychol Rev. 2017 Mar;124(2):179-196. doi: 10.1037/rev0000055.

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