Was wir vom langlebigen Nacktmull über effektiven Krebsschutz lernen können

Nacktmull im Zoo. Fotograf: Roman Klementschitz, Wien. GNU Free Documentation License.

Nacktmull im Zoo.
© Roman Klementschitz, Wien. GNU Free Documentation License.

Wissenschaftler können von Nacktmullen einiges lernen, denn diese Nager zeigen trotz ihrer hohen Lebenserwartung kaum Alterserscheinungen. Obwohl die Wissenschaftler diese Tiere seit Jahrzehnten erforschen ist bisher kein Fall von Krebs bei Nacktmullen bekannt. Forscher haben nun entdeckt, was den Nagern ihre hohe Krebsresistenz verleihen könnte.

Nacktmulle (Heterocephalus glaber) leben in großen unterirdischen Bauen in den trockenen, heißen Halbwüsten Ostafrikas. Dort leben sie in staatenartigen sozialen Gemeinschaften von 20 bis 300 Tieren, in denen jedem Tier entsprechend seinem Alter spezielle Aufgaben zugeteilt sind. Obwohl sie nur so groß wie eine Maus sind werden sie älter als 30 Jahre und sind damit die langlebigsten Nagetiere, die man kennt. Dabei entwickeln sie so gut wie keine Alterserscheinungen: Ihre Sterblichkeit nimmt mit dem Alter nicht zu und sie können sich auch im hohen Alter noch vermehren. Sie entwickeln keine Krebszellen und selbst in Zellkultur ist es bisher nicht gelungen Nacktmullzellen in Krebszellen zu transformieren, was dagegen sowohl mit Zellen von Menschen als auch Mäusen leicht gelingt.

Das Forscherehepaar Vera Gorbunova und Andrei Seluanov an der Universität von Rochester hat nun herausgefunden, wie es Nacktmullen gelingt die Krebsentstehung zu unterbinden: Sie produzieren ein komplexes Zuckermolekül das ihre Zellen daran hindert zu verklumpen und Tumore zu bilden.

Ob dieses Zuckermolekül auch in der Krebstherapie beim Menschen eingesetzt werden kann muss noch erforscht werden. Im Körper befinden sich diese Zuckermoleküle in dem gallertartigen Material das die Zellen umgibt – der extrazellulären Matrix. Krebsforscher messen ihr schon lange eine wichtige regulatorische Bedeutung bei der Krebsentstehung zu.

Warum der Nacktmull für die Krebsforscher so interessant ist

Die meisten Forscher untersuchen die Krebsentstehung an den sehr kurzlebigen Mäusen, die nicht älter als maximal vier Jahre werden. Bei den meisten Krebsforschern sind Mäuse deswegen so beliebt, weil sie von Natur aus besonders krebsanfällig sind. An ihnen kann man lernen, welche Faktoren die Krebsentstehung fördern. Vera Gorbunova und Andrei Seluanov verfolgten eine genau entgegengesetzte Strategie. Sie suchten systematisch nach einem Nagetier das besonders langlebig ist. Von ihm wollten sie lernen, wie man die Krebsentstehung von Anfang an unterbinden kann. Denn ein langlebiges Tier muss effektive Schutzmechanismen gegen Krebs besitzen, damit es nicht der entarteten Wucherung seiner Krebszellen zum Opfer fällt. Biber und Grauhörnchen können über 20 Jahre alt werden. Aber Nacktmulle stellen beide mit ihrer Lebenserwartung von über 30 Jahren in den Schatten. Außerdem sind die Nager eine bestens erforschte Tierart. Aufgrund ihres ungewöhnlichen Sozialverhaltens untersuchen Verhaltensforscher diese Tiere schon seit vielen Jahren: Ähnlich wie bei Ameisen stammen alle Tiere eines Baus von einem einzigen Weibchen ab – der Königin. Die Arbeiterinnen dagegen vermehren sich nicht. Von den Männchen kommen nur die stärksten bei der Königin zum Zuge. Während dieser langjährigen Forschungsarbeit ist noch kein Fall von Krebs bei Nacktmullen beobachtet worden. Das war genau die richtige Tierart für Vera Gorbunovas und Andrei Seluanov.

Nacktmull beim Fressen.  © Trisha M Shears. Public domain.

Nacktmull beim Fressen.
© Trisha M Shears. Public domain.

Was unterscheidet die Zellen des Nacktmulls von denen des Menschen oder der Maus?

Anfangs wussten die Wissenschaftler nicht so recht, wo sie mit ihrer Suche nach der Krebsresistenz der Nacktmulle beginnen sollten. Also kultivierten sie erst einmal Zellen dieser Nager in der Petrischale. Dazu benutzten sie die alt bewährten Fibroblasten – Bindegewebszellen, die an der Bildung der extrazellulären Matrix beteiligt sind. Lässt man solche Zellen von Mensch oder Maus in solchen Kulturschalen wachsen, so teilen sie sich bis sie den Boden der Petrischale vollständig bedecken. Durch den Kontakt zu ihren Nachbarzellen werden sie an einem weiteren Wachstum gehindert. Dieses Phänomen nennt man Kontaktinhibition – ein natürlicher Schutz gegen unkontrolliertes Zellwachstum, wie es bei Krebs auftritt. Eine typische Krebszelle lässt sich nicht mehr durch Kontaktinhibition in ihrem Wachstum bremsen. Sie teilt sich selbst dann noch, wenn sie Kontakt zu ihrer Nachbarzelle hat. Als die Forscher die Fibroblasten der Nacktmulle in der Petrischale wachsen ließen erlebten sie eine Überraschung: Die Zellen hörten schon bei einem Drittel der Zelldichte auf sich zu teilen, die den Forschern von der Kultivierung von menschlichen Zellen bekannt war. Das war der erste Hinweis darauf, wie die Nacktmulle sich vor einem unkontrollierten Tumorwachstum besser schützen können, als Mensch und Maus. Verantwortlich für die Einstellung des Zellwachstums ist das Rezeptorprotein p16 auf der Oberfläche der Zellen, das aktiv wird sobald die Zelldichte nicht mehr zunehmen soll.

Woher bekommen die Zellen das Signal, sich nicht weiter zu teilen?

Aber wie es zu einem Schloss immer einen Schlüssel gibt so musste es zu dem Rezeptor einen Liganden geben – ein Molekül, das an den Rezeptor bindet. Erst wenn der Ligand an den Rezeptor gebunden ist kann er das Signal sich nicht weiter zu teilen ins Innere der Zelle weiterleiten. Also machten sich die Forscher daran herauszufinden welches Molekül für die Aktivierung des Rezeptors p16 zuständig ist? Wie so oft in der Forschung kam den Wissenschaftlern der Zufall zu Hilfe: Bei der Arbeit mit den Nacktmullzellen beklagten sich die technischen Assistentinnen, dass die Zellen mit der Zeit immer schwerer zu handhaben waren. Die Kulturlösung wurde immer schmieriger, je dichter die Zellen gewachsen waren. Die Forscher rätselten worum es sich bei diesem Sirup handelte und beschlossen ihn zu untersuchen.

Christopher Hine, ein Mitarbeiter der Arbeitsgruppe, fand heraus, dass der Sirup aus dem Zuckermolekül Hyaluronsäure besteht, einem wesentlichen Bestandteil der extrazellulären Matrix.

Hyaluronsäure  © Public domain Wikimedia Commons

Hyaluronsäure
© Public Domain, Wikimedia Commons

Um herauszufinden, welche Bedeutung das Zuckermolekül für das Zellwachstum hat entfernten sie die Hyaluronsäure aus den Kulturen. Dies erreichten sie indem sie das Hyaluronsäure-abbbauende Enzym Hyaluronidase zu den Zellkulturen gaben. Sobald Hyaluronsäure in den Zellkulturen fehlte wuchsen die Zellen ohne Kontaktinhibition ungehemmt weiter. Eine Vorbedingung für die Tumorentstehung. Sobald die Forscher das Enzym wieder aus den Zellkulturen entfernten – die Zellen also wieder Hyaluronsäure bilden konnten – hörten die Zellen mit dem unkontrollierten Wachstum auf. Das war der Beweis dafür, dass Hyaluronsäure der Ligand ist der an den Rezeptor p16 an der Zelloberfläche bindet. So bekommt die Zelle signalisiert, dass sie ihr Wachstum einstellen soll.

Ein langkettiges Zuckermolekül mit großem Potential

Hyaluronsäure ist im Tierreich weit verbreitet. Sie schmiert die Gelenke und ist ein essentieller Bestandteil von Haut und Knorpel. Sie wird bereits vielfach als Therapeutikum genutzt: sie ist ein Bestandteil von Hautcremes, wird in der Arthritistherapie eingesetzt und kommt in der Schönheitschirurgie zur Anwendung. Was aber macht die Hyaluronsäure von Nacktmullen dann so einzigartig, dass sie diese Tiere vor Krebs schützen kann? Hyaluronsäure besteht aus einer langen Kette von Zuckermolekülen. Die Länge dieser Kette ist bei jeder Tierart anders. Als die Wissenschaftler die Hyaluronsäure der Nacktmulle reinigten und untersuchten stellten sie fest, dass diese ungewöhnlich groß ist: fünf mal so lang wie beim Menschen oder der Maus.

Könnte die Größe der Hyaluronsäure die Nacktmulle resistent gegen Krebs machen? Tatsächlich haben andere Wissenschaftler herausgefunden, dass längere Hyaluronsäureketten sowohl die Zellteilung als auch Entzündungsprozesse unterbinden. Sie signalisieren dem Körper, dass das Gewebe ausgereift und intakt ist. Kleinere Hyauronsäureketten können dagegen genau das Gegenteil bewirken. Besonders bei Gewebeschäden wie sie nach Verletzungen auftreten signalisieren die zerstörten, kürzeren Hyaluronsäuren den Zellen sich zu teilen, um eine Heilung der Wunde auszulösen. Ähnlich Mechanismen spielen auch bei der Krebsentstehung eine Rolle.

Nacktmull im Bau

Nacktmull im Bau.
© Trisha M Shears. Public domain.

Die Größe der Hyaluronsäure ist jedoch nicht der einzige Unterschied zum Menschen. Nacktmulle produzieren auch eine ungewöhnlich große Menge dieses Moleküls. Das kommt dadurch zustande, dass bei Nacktmullen das Enzym zum Aufbau der Hyaluronsäure wesentlich aktiver ist, als dies beim Menschen der Fall ist. Gleichzeitig arbeitet das Enzym zum Abbau der Hyaluronsäure nur sehr langsam. Dieses verschobene Gleichgewicht von Auf- und Abbau von Hyaluronsäure ermöglicht den Nacktmullen große Mengen an Hyaluronsäure zu bilden, die sie dann in ihrer extrazellulären Matrix einbauen.

Wie die Forscher herausfanden, ob Hyaluronsäure tatsächlich für die Hemmung des Zellwachstums verantwortlich ist

Das ist aber noch kein Beweis dafür, dass dieses große Hyaluronsäuremolekül vor einer Entwicklung von Tumoren schützt. Daher machten die Forscher folgenden Versuch: Sie schalteten in den Nacktmullzellen ein sogenannten Tumorsuppressorgen – ein Gen, das vor der Entstehung von Tumoren schützt – namens p53 aus. Gleichzeitig aktivierten sie ein so genanntes Onkogen – ein Gen dessen Aktivierung die Entstehung von Tumoren fördert – namens Ras. Mit anderen Worten: sie schalteten ein Tumorschutzgen aus und aktivierten zudem ein Gen das die Tumorentwicklung fördert. Nach einer solchen Genmanupulation würden menschliche Zellen und Mauszellen Tumore bilden. Nicht so die Nacktmullzellen, solange sie weiterhin ihre langkettige Hyaluronsäure produzieren konnten. Erst als die Wissenschaftler die Nacktmullzellen daran hinderten Hyaluronsäure zu bilden, indem sie das Enzym zum Abbau besonders aktivierten oder indem sie das Enzym für den Aufbau ausschalteten, bildeten die Nacktmullzellen Tumore. Das war der Beweis dafür, dass die Hyaluronsäure tatsächlich die Nacktmullzellen vor einem tumorartigen Wachstum schützt.

Wozu der Nacktmull die Hyaluronsäuren braucht

Warum aber bilden die Nacktmulle so große Hyaluronsäuremoleküle? Auch darauf haben die Wissenschaftler eine Antwort: Sie vermuten, dass das Riesenmolekül die Haut der Nacktmulle besonders geschmeidig und elastisch macht. So können die rein unterirdisch lebenden Tiere sich gut durch ihre dünnen Gänge in ihren Bauen zwängen. Der Schutz gegen Krebs ergab sich da nur als nützlicher Nebeneffekt.

Fazit und Ausblick

Die Forscher zeigten sich zuversichtlich, dass man diese Erkenntnisse auch für die menschliche Krebstherapie nutzen könnte. Aber wie mit jeder Forschung in einem so frühen Stadium ist Vorsicht angebracht. Die Rolle von Hyaluronsäure bei der menschlichen Krebsentstehung ist bei weitem noch nicht richtig verstanden. Es sind sogar Fälle bekannt, in denen sich Tumorzellen durch die Produktion von Hyaluronsäure vor einer Chemotherapie geschützt haben. Außerdem stellen die Versuchsergebnisse aus Rochester vielleicht nur einen von mehreren Mechanismen dar, durch die Nacktmulle vor der Krebsentstehung geschützt sind. Die Tiere haben auch noch eine veränderte Enzympalette zur Verlängerung der Telomere, den Enden der Chromosomen, sowie eine verringerte Stoffwechselaktivität. Beide Phänomene könnten ebenfalls ein Grund dafür sein, dass Nacktmulle keinen Krebs bekommen. Eine Vielzahl von Versuchen zeigte einen klaren Zusammenhang zwischen einer verringerten Stoffwechselaktivität, erreicht durch eine entsprechende kalorienarme Diät, und einer deutlichen Lebensverlängerung, in deren Folge auch ein Rückgang der Krebsrate beobachtet wurde. Trotzdem ist die Arbeit von dem Forscherteam um Vera Gorbunova und Andrei Seluanov ein vielversprechender Ansatz. Man darf gespannt sein, was die weiteren Versuche ergeben.

von Ute Keck

Tian X. et al. (2013). High-molecular-mass hyaluronan mediates the cancer resistance of the naked mole rat

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