Wie sich die Evolution von Viren und Krebszellen berechnen lässt

Grippeviren. © public domain

Grippeviren. © public domain

Prognosen über die künftige Evolution von Organismen waren lange Zeit pure Spekulation. Wissenschaftler haben nun einen Algorithmus entwickelt, der die Entwicklung von sich asexuell vermehrenden Organismen wie Viren oder Krebszellen berechnen kann. Die Forscher testeten das Programm erstmals an der historischen Entwicklung des Grippevirus A/H3N2: Rückblickend konnte der entwickelte Algorithmus den vorherrschenden Virustyp der nächsten Saison in den meisten Fällen gut bis sehr gut bestimmen. Eine Kombination dieses Ansatzes mit anderen Methoden könnte in naher Zukunft die Treffsicherheit der Prognosen noch weiter erhöhen. Die Methode der Forscher ist zudem nicht nur auf Grippeviren beschränkt – auch die Entwicklung von HIV und Noroviren sowie von Krebszellen lässt sich damit vorhersagen.

Der Algorithmus der Wissenschaftler beruht auf einer einfachen Idee: Von der Verteilung der Äste eines Stammbaums schließt er auf die Überlebensfähigkeit – sprich: die biologische Fitness – eines Organismus. Besonders fitte Abstammungslinien haben mehr Nachkommen und ihr Stammbaum weist deshalb mehr Verzweigungen auf. Reich verzweigte Äste eines Stammbaums repräsentieren deshalb die Linien, die sich voraussichtlich in Zukunft durchsetzen werden. „Die Evolution vorherzusagen ist der ultimative Test für unser Verständnis von Evolution“, sagt Richard Neher vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. Solche Vorhersagen sind darüber hinaus nützlich, um Impfstoffe gegen sich schnell verändernde Krankheitserreger wie Grippeviren herzustellen.

Die Methode basiert auf zwei Grundannahmen: Mutationen verändern die Eigenschaften der einzelnen Individuen in kleinen Schritten. Da die Organismen einer dauerhaften, gerichteten Selektion ausgesetzt sind können sich  diejenigen am besten vermehren, die optimal an die Selektionsbedingungen angepasst sind. Der Algorithmus benötigt als Input den Stammbaum, der aus den Gen-Analysen der verschiedenen Linien des Organismus gewonnen wird.

Die Zuverlässigkeit der Methode konnte in der Praxis bereits bewiesen werden. Die Forscher testeten sie anhand der Entwicklung des Grippevirus A/H3N2 in Asien und Nordamerika im Zeitraum zwischen 1995 und 2013. Aus den Gen-Daten des Oberflächenrezeptors Hämagglutinin 1 eines Jahres erstellten sie einen Stammbaum, aus dem das Programm dann für die kommende Grippesaison die Viruslinien mit der höchsten Fitness errechnete. „Unser Algorithmus bestimmte in 30 Prozent der Fälle den Virus-Typ, aus dem der vorherrschende Typ des nächsten Jahres hervorging. In 16 des 19 Jahre umfassenden Zeitraums machte er zudem aussagekräftige Prognosen über den Virustyp der nächsten Saison. Das legt nahe, dass die Fitness des Grippevirus maßgeblich von Mutationen bestimmt wird, die jede für sich nur einen kleinen Effekt haben und die sich mit der Zeit anhäufen“, sagt Neher.

Die Tübinger Forscher haben darüber hinaus die Entwicklung von A/H3N2 mit Prognosen verglichen, die Forscher aus Köln und New York im Frühjahr 2014 veröffentlicht hatten. Dieser Algorithmus bestimmt anhand langer Zeitserien von Gen-Daten der Grippeviren, welcher Virustyp im nächsten Jahr dominant sein wird und ist speziell für Grippeviren entwickelt worden. Dabei zeigte sich, dass die Prognosen aus Tübingen ähnlich zuverlässig sind, obwohl der zugrunde liegende Algorithmus viel einfacher ist und auf viele unterschiedliche Organismen angewandt werden kann.

Eine Kombination mit Modellen über die Verbreitung und Übertragung von Krankheitserregern könnte die Zuverlässigkeit des Algorithmus noch weiter verbessern. „Unsere Methode funktioniert ohne historische Daten und braucht auch keine detaillierten Kenntnisse darüber, wie das Erbgut eines Organismus seine Fitness beeinflusst. Dadurch ist das Programm vielseitiger und lässt sich bei anderen Virenarten sowie Bakterien und Krebszellen anwenden“, sagt Neher. Als nächstes wollen die Wissenschaftler ihren Algorithmus auf HI- und Noroviren anwenden.

Max-Planck-Gesellschaft, 12. November 2014

 

Originalpublikation:
Richard A. Neher, Colin A. Russell, and Boris I. Shraiman. Predicting evolution from the shape of genealogical trees eLife, 11. November 2014. DOI: 10.7554/eLife.03568

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