In einem ehemaligen Schwesternzimmer der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) sitzen Schwestern der ganz anderen Art. Zwischen Ästen und Ranken von Yucca-Palmen, Drachenbäumen und anderen großen Zimmerpflanzen liegen über 50 der handtellergroßen Weibchen der goldenen Radnetzspinne (Nephila clavipes) in ihren zwei Meter großen Netzen auf der Lauer. Die Forscher der Arbeitsgruppe von Christina Allmeling und Kerstin Reimers von der Klinik für Plastische-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie geben sich alle Mühe es ihren achtbeinigen Schützlingen so gemütlich wie möglich zu machen: Die tropischen Spinnen, die sich nicht in Terrarien halten lassen, fühlen sich nur bei Temperaturen zwischen 25 bis 30 °C wohl und brauchen viel Tageslicht. Deshalb dürfen sie sich in dem geräumigen Zimmer des Spider Silk Labors ein passendes Plätzchen für ihr Netz aussuchen. Die Forscherinnen haben den einzelnen Tieren sogar Namen gegeben wie Babette, Joy oder Gasper. Als Gegenleistung haben es die Forscher auf die kostbaren Seidenfäden von Nephila abgesehen.
Was die Spinnenseide für die Medizin so kostbar macht
Spinnenseide könnte sich wegen ihrer außergewöhnlichen Materialeigenschaften besonders gut für medizintechnische An wendungen eignen. Bei einer Reißfestigkeit vergleichbar mit Stahl (bis zu 4.8 GPa), ist sie so elastisch wie Gummi (bis zu 35% dehnbar). Durch die Verbindung dieser beiden Eigenschaften besitzt Spinnenseide eine zwei bis dreimal höhere Widerstandsfähigkeit und Elastizität als vergleichbare synthetische Fasern wie Nylon oder Kevlar 49. Dabei ist sie extrem leicht (1.3 g/cm3 ). Weiter ist sie sehr thermostabil und kann auf bis zu 250 °C erhitzt werden, ohne ihre mechanischen Eigenschaften zu verlieren. Das ist für eine medizintechnische Anwendung besonders wichtig, da ein Material, das in den menschlichen Körper eingebracht werden soll zuvor hitzesterilisiert werden muss. Außerdem wirkt sie antimikrobiell, ruft keinerlei allergische oder entzündliche Reaktionen hervor und ist vollständig biologisch abbaubar.
Die Arbeitsgruppe von Christina Allmeling und Kerstin Reimers experimentiert damit Spinnenseide zur Regeneration von Nerven einzusetzen. Nerven des peripheren Nervensystems können sich zwar eher wieder regenerieren, als solche des zentralen Nervensystems. Wird ein Nerv allerdings durch einen Unfall oder eine Operation durchtrennt verheilt er meist nur schlecht. Die Nervenaxone am Nervenzellkörper sprießen zwar nach einer Durchtrennung wieder in alle Richtungen aus. Sie benötigen aber eine röhrenförmige Struktur aus Schwann’schen Zellen, die ihnen normalerweise vom anderen Nervenende aus entgegen wächst, um ihr Ziel zu finden. Solange am durchtrennten Nerv keine Lücke entstanden ist kann man die beiden Enden operativ wieder verbinden: Bei dieser Methode sind die Aussichten auf Heilung meist gut. Ist aber im durchtrennten Nerv eine Lücke entstanden, fehlt dem Nerv die erforderliche Leitstruktur. Um dieses Problem zu lösen bietet sich die extrem dünne Spinnenseide an, die in etwa so dick wie ein Nerv ist. Um die benötigte Leitstruktur zu erhalten präparierten die Forscherinnen ein Kollagengerüst aus Schweinevenen und versahen es innen mit Spinnenfäden.
Bisher überbrückt man eine entstandene Nervenlücke entweder mit eigenen Nerven des Patienten. Diese fehlen dann jedoch an der Entnahmestelle und führen dort zu einem Taubheitsgefühl. Oder man setzt künstliche Röhrchen als Leitsystem ein. Auf diese Weise gelingt es bisher kurze Lücken von wenigen Millimetern bis 2 cm zu überbrücken. Diese Systeme haben jedoch den Nachteil, nicht selten als Fremdkörper erkannt zu werden. Oft müssen sie auch nach erfolgreicher Heilung durch eine erneute Operation wieder aus dem Körper entfernt werden. Bisher funktionieren diese künstlichen Systeme nur für dünne Nerven. Dickere und längere Nerven, wie etwa die des Armnervengeflechtes oder des Ischiasnerv können mit diesen Techniken nicht geheilt werden.
Die Regeneration von Nerven ist immer ein Wettlauf mit der Zeit. Denn wenn die Zeitspanne zwischen dem Auftreten der Nervenschädigung und dem erneuten Einwachsen der Nervenfaser in das Zielgewebe zu groß ist, können dort inzwischen irreversible Schäden entstanden sein. Die durchschnittliche Wachstumsgeschwindigkeit eines erneut auswachsenden Nerven (Neuriten) liegt beim Menschen bei ein bis fünf Millimeter pro Tag. Da kann die Regeneration eines Nerven, dessen Verletzung einige Zentimeter von seinem Zielort entfernt liegt einige Monate dauern. Um den Erfolg der Regeneration des Nerven zu sichern sollte diese also möglichst komplikationslos ablaufen.
Erste vorklinische Studien an Ratten und Schafen mit den Röhrchen aus Spinnenseide verliefen vielversprechend. Die Röhrchen dienen dabei als Platzhalter für die aussprießenden Nerven. Bei einer Durchtrennung eines Nerven, wie er zum Beispiel von der Schulter zur Hand verläuft können diese Röhrchen eine Leitstruktur bereitstellen, die von der Schulter, von wo aus der Nerv sein Wachstum beginnen würde bis zur Hand führt, wo er hinfinden muss. Dabei bilden sich zunächst die sogenannten Schwann’schen Zellen. Als Stütz- und Isolierzellen bilden sie um die Spinnenseide herum einen Tunnel durch den das Axon des Nervs dann bis an sein Ziel wächst. Im Verlauf dieses Prozesses wird die Spinnenseide schließlich komplett vom Körper resorbiert. Nach erfolgreicher Heilung verläuft dort, wo sich vorher die Spinnenfäden befanden das Axon des Nervs. Bei ausgewachsenen Schafen konnte auf diese Weise bisher eine 6 cm lange Lücke des Nervus tibialis (Schienbeinnerven) überbrückt werden. Die Ergebnisse dieser Technik waren genauso gut, wie eine Transplantation von eigenen Nervenfasern der Schafe. Auch die für eine schnelle Nervenleitung notwendigen Ranvierschen Schnürringe hatten sich zwischen den Schwann’schen Zellen ausgebildet. Die Schafe konnten nach einigen Monaten wieder fast genauso gut laufen wie vor dem Eingriff.
Warum die Forscherinnen die Seidenfäden der goldenen Radnetzspinne auswählten
Christina Allmeling und Kerstin Reimers wählten die Spinnenseide für ihre Versuche aus, weil diese ihre Anforderungen am besten erfüllte. In ersten Experimenten fanden sie heraus, dass sich die Nervenzellen gut an diese Seide anheften, dort weiter wachsen, sich vergrößern und sich an der Spinnenseide entlang bewegen. Und es gibt noch eine weitere wesentliche Eigenschaft von Spinnenseide, die für eine erfolgreiche Nervenregeneration existenziell ist: Anders als viele vergleichbare Materialien ist der Abbau von Spinnenseide pH-neutral. Denn eine Änderung des pH-Wertes beim Abbau der Leitstruktur kann dazu führen, dass die auf pH-Änderungen sehr empfindlich reagierenden Nervenzellen ihre Regeneration einstellen.
Wie durchtrennte Nerven mit Spinnfäden vernäht werden könnten
Der Wunsch eines Operateurs nach einem Nahtmaterial so dünn wie Spinnenfäden brachte Christina Allmeling zu Beginn ihrer Forschungslaufbahn dazu, sich eingehender mit Spinnenseide zu beschäftigen. Beim Zusammennähen durchtrennter Nerven, wie zum Beispiel der feinen Nervenfasern der Finger, gibt es nämlich immer noch ungelöste Probleme. Die in der Mikrochirurgie eingesetzten Nahtmaterialien, wie etwa Seide vom Seidenspinner (Bombyx mori), Nylon oder Polyglycolsäure können nämlich dazu führen, dass der Nerv sein axonales Wachstum einstellt und sich ein Narbenneurom bildet. Das ist ein kleiner, gutartiger Tumor aus Nervengewebe, der sich aufgrund von wachstumshemmenden Faktoren bilden, die von Fibroblasten (Bindegewebszellen) ausgeschüttet werden. Statt neu auszuwachsen vernarbt der Nerv dann. Ein solches Neuroma besteht aus ungeordneten und ungerichteten Nervenbahnen, die keine synaptische Zielverknüpfung besitzen. Aufgrund dieser chaotischen Struktur kann es zu starken Schmerzen kommen, die entweder permanent bestehen oder durch mechanische Reiz ausgelöst werden.
Auch für die Lösung dieses Problems bietet sich die Spinnenseide aufgrund ihrer hervorragenden Eigenschaften an. Christina Allmeling und Jörn Kuhbier haben deshalb aus Spinnenseide ein feines, sehr zugfestes und flexibles Nahtmaterial hergestellt. Die bislang verwendeten Nylonfäden haben eine Dicke von zwanzig bis dreißig Mikrometern. Um ein vergleichbares Material aus Spinnenfäden herzustellen, haben die Wissenschaftler die Spinnenfäden zu zwei oder drei Bündeln aus je zehn bis fünfzehn Fäden miteinander verdrillt. Dieses Nahtmaterial hat erste mechanische Test erfolgreich durchlaufen. Dabei stellte sich heraus, dass es eine zweieinhalbmal größere Reißfestigkeit und eine eineinhalbmal größere Dehnbarkeit als Nylon aufweist. Damit könnten die verzwirnten Spinnenfäden sich den in einer Wunde auftretenden Spannungen besser anpassen. Zusätzlich hätte es den Vorteil sich nach erfüllter Aufgabe vom Körper problemlos abbauen zu lassen.
Wie die Spinnenseide gewonnen wird
Alle 14 Tage werden die Radnetzspinnen sanft aus ihrem Netz genommen und müssen zum Seidenmelken, das ungefähr 15 min dauert. Dazu wird die Spinne mit dem Rücken auf einen Schaumstoffkeil gelegt und darauf vorsichtig mit einem Gaze und Stecknadeln fixiert. Dann fischt die Forscherin am Hinterleib der Spinne vorsichtig nach dem Haltefaden. Dieser hängt der Spinne immer ein Stück aus dem Hinterleib, da er als Sicherungsfaden für Notsituationen jederzeit verfügbar sein muss. Spinnen haben bis zu sieben verschiedene Spinndrüsen, mit denen sie unterschiedliche Spinnfäden erzeugen können. Dann befestigt die Forscherin den Faden sorgsam an einer Spule, mit der Nephila der Spinnfaden sozusagen aus der Spinndrüse gesponnen wird. Solange ein Zug auf den Seidenfaden einwirkt und die Spinne in ihrer Spinndrüse genügend von den für das Spinnen benötigten Proteinen zur Verfügung hat, kann ihr so der Faden aus der Spinndrüse gezogen werden. 50 bis 100 Meter pro Tag können die Forscherinnen im Durchschnitt auf diese Weise ernten. Der Faden von Nephila clavipes glänzt golden im Licht, daher hat die Spinne ihren Namen. Nach der Prozedur gibt es zur Stärkung nach der Anstrengung einen fetten Happen, ein Heimchen.
von Ute Keck
Kuhbier JW et al. 2011. First investigation of spider silk as a braided microsurgical suture.