Nahezu ursprüngliche Stammzellen des Menschen entdeckt, die ohne virales Gen ihre Pluripotenz verlieren

Neu entdeckte nahezu ursprüngliche humane Stammzellen (grün) in einer Kulturschale mit humanen embryonalen Stammzellen.© Jichang Wang/ Copyright: MDC

Neu entdeckte nahezu ursprüngliche humane Stammzellen (grün) in einer Kulturschale mit humanen embryonalen Stammzellen.© Jichang Wang/ Copyright: MDC

Wissenschaftler sind auf der Suche nach der ursprünglichen, „naiven“ humanen, embryonalen Stammzelle fündig geworden. Sie soll sich in einem so frühen Entwicklungsstadium befinden, dass sich aus ihr noch alle Zellen und Gewebe des Körpers entwickeln können. Die Wissenschaftler konnten auch den Mechanismus aufdecken, wie sich diese „naiven“ Stammzellen bilden. Gleichzeitig geben ihre Erkenntnisse Rätsel über die Evolution dieses Mechanismus auf.

Embryonale Stammzellen des Menschen unterscheiden sich erheblich von embryonalen Stammzellen der Maus. Naive Stammzellen der Maus ähneln der inneren Zellmasse, auf Deutsch auch Embryoblast genannt, aus der sich der Embryo entwickelt. Das trifft auf die humanen embryonalen Zelllinien, mit denen die Forscher bisher in den Laboren arbeiten, nicht zu. Naive oder ursprüngliche embryonale Maus-Stammzellen können sehr gut im Labor gezüchtet werden, das gilt für die ursprünglichen humanen Zellen nicht. Wissenschaftler rätseln immer noch über den Grund dieser Unterschiede. Möglicherweise, so vermuten Forscher, befinden sich die bisher im Labor eingesetzten humanen Stammzellen in einem weiter fortgeschrittenen Entwicklungsstadium, als die pluripotenten Stammzellen der Maus und haben deshalb teilweise ihre Pluripotenz eingebüßt.

Was also ist eine ursprüngliche humane pluripotente Stammzelle? Welche Eigenschaften hat sie? Wie kann man sie identifizieren, isolieren, im Labor vermehren und in Zellkultur halten? Die Klärung dieser Fragen, mit denen sich Forschungslabors auf der ganzen Welt beschäftigen, ist die Voraussetzung dafür, diese Zellen künftig für Therapien einsetzen zu können.

Evolution brachte Wissenschaftler auf die richtige Fährte

Die Evolution brachte die Forscher schließlich auf die richtige Fährte. Sie folgten Hinweisen, dass bestimmte Viren, die im menschlichen Genom integriert sind in einem sehr frühen Embryonalstadium aktiv werden. Dabei stießen sie auf eine Klasse von Retroviren, die in der Fachsprache als humane endogene Retroviren H (HERVH) bezeichnet werden. Sie haben sich vor Millionen von Jahren in die DNA integriert und stellen keine selbständigen Viren mehr dar. Sie werden jedoch genau zu dem sehr frühen Zeitpunkt im menschlichen Embryo aktiv, zu dem die Entwicklung naiver embryonaler Stammzellen zu erwarten wäre. Diese Entdeckung hatten vor kurzem unabhängig voneinander gleich zwei verschiedene Forscherteams gemacht: Das Forscherteam Zsuzsanna Izsvák vom Max-Delbrück-Centrum in Berlin-Buch und Laurence D. Hurst von der Universität Bath und die Arbeitsgruppe von Kazutoshi Takahashi von der Universität von Kyoto in Japan.

Zsuzsanna Izsvák und Laurence D. Hurst sind aber noch einen Schritt weiter gekommen. Sie konnten den Schalter identifizieren, der HERVH steuert. Dazu untersuchten sie eine gemischte Zellkultur aus humanen embryonalen Stammzellen und humanen induzierten pluripotenten Stammzellen. Letztere waren aus Hautzellen von Menschen gewonnen und mit Hilfe eines Gencocktails in ein früheres Entwicklungsstadium versetzt worden. An diesen Zellen konnten die Forscher zeigen, dass der Transkriptionsfaktor LBP9 die Aktivität von HERVH in humanen embryonalen Stammzellen des Menschen reguliert. LBP9 schaltet bei HERVH bestimmte Gensequenzen an. Diese aktivieren wiederum ihrerseits verschiedene Gene in den humanen Stammzellen, die ihnen die Fähigkeit der Pluripotenz vermitteln. Weiter gelang es den Forschern diese humanen Stammzellen sichtbar zu machen. Dazu brachten sie in diese Zellen ein Reporter-System ein, das die Zellen, die HERVH über den Faktor LBP9 anschalten, grün leuchten lässt. Damit konnten sie in der Zellkultur humane Stammzellen identifizieren, die das Virus HERVH über den Transkriptionsfaktor LBP9 anschalten und alle wichtigen Merkmale einer naiven humanen Stammzelle tragen.

„Unsere humanen, sehr frühen Stammzellen sind den naiven Stammzellen der Maus bemerkenswert ähnlich“, erklärt Wang, ein weiteres Mitglied des Forscherteams. „Sie wachsen wie die naiven Stammzellen der Maus und schalten auch viele derselben Gene an, wie etwa Nanog, KLF4 und Oct4. Wenn wir den Transkriptionsfaktor LBP9 oder das Virus HERVH in den humanen Zellen herunterschalten, sehen sie nicht mehr wie ursprüngliche humane embryonale Stammzellen aus“. Dieser Transkriptionsfaktor spielt, wie Izsvák und Hurst zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung nicht wissen konnten, auch bei naiven embryonalen Stammzellen der Maus eine wichtige Rolle. Diese Entdeckung machte die Forschungsgruppe des Stammzellforschers Austin Smith von der University of Cambridge in England. Der Faktor trägt bei der Maus jedoch einen anderen Namen. Er heißt hier Tfcp2l1.

Als nächstes sollen die, dem naiven Stadium ähnlichen Stammzellen isoliert und in Kultur vermehrt werden. „HERVH könnte auch klären helfen, wie humane Stammzellen am besten in Kultur gehalten werden können“, so Izsvák. „HERVH unterdrückt die Weiterentwicklung der Stammzelle, weshalb wir davon ausgehen, dass HERV nur kurzzeitig angeschaltet wird, denn sonst könnte sich nie ein Embryo entwickeln. Welche Faktoren bei der Ausbalancierung dieses Prozesses eine Rolle spielen, wissen wir nicht“.

Was den Forschern in Berlin und Bath noch Rätsel aufgibt, ist die Tatsache, dass das Virus HERVH nur in Primaten – also in Affen und auch im Menschen – nachgewiesen worden ist, nicht aber in Mäusen. „Als Evolutionsbiologe finde ich das sehr seltsam“, so Hurst, „Denn eigentlich würde man vermuten, dass ein so grundsätzlicher Mechanismus wie die Pluripotenz zwischen zwei Spezies von Säugetieren in der Evolution konserviert ist“. „Es wird noch seltsamer“ so Izsvák. „Wir haben ein Gen entdeckt, kurz ESRG genannt, dessen Gensequenz fast vollständig von dem Virus HERVH abstammt. Wir wissen nicht, welche Rolle ESRG im Genom des Menschen spielt. Wenn wir es aber herunterschalten, verlieren die humanen Stammzellen ihre Pluripotenz. ESRG ist aber nur beim Menschen zu finden, selbst unsere nächsten Verwandten, die Affen, haben dieses Gen nicht.“

„Dieser von HERVH getriebene, nur beim Menschen vorkommende Schaltkreis, könnte zumindest teilweise erklären, weshalb embryonale Stammzellen des Menschen sich so grundlegend von embryonalen Stammzellen der Maus unterscheiden“, so Izsvák. Sie schlägt deshalb vor, humane ursprüngliche Stammzellen künftig mit der humanen inneren Zellmasse zu vergleichen, statt mit naiven Mausstammzellen.

„Wie hat sich dieser Schaltkreis für uns Menschen entwickelt“, fragt Hurst. „Das ist wirklich ein Rätsel. Weshalb sollte die Evolution mit etwas herumbasteln, mit dem offensichtlich nicht herumgebastelt werden muss? Wir wissen, dass einige Proteine, die mit LBP9 in Verbindung stehen, für die Unterdrückung von Viren wichtig sind – vielleicht liegt ja darin des Rätsels Lösung?“

Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin Berlin-Buch, 16. Oktober 2014

 

Originalpublikation:

Wang J, Xie G, Singh M, Ghanbarian AT, Raskó T, Szvetnik A, Cai H, Besser D, Prigione A, Fuchs NV, Schumann GG, Chen W, Lorincz MC, Ivics Z, Hurst LD, Izsvák Z. Primate-specific endogenous retrovirus-driven transcription defines naive-like stem cells. Nature. 2014 Oct 15. doi: 10.1038/nature13804

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