Wissenschaftler haben nun untersucht, warum eine Musiktherapie bei Tinnitus so erfolgreich ist. Die von Heidelberger Forschern entwickelte Therapie hilft dabei, die lästigen Ohrgeräusche buchstäblich „wegzusummen“. 80 Prozent der Patienten empfanden den Tinnitus nach dieser Behandlung nicht mehr als quälend, bei acht Prozent verschwand er sogar völlig. Mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomographie (MRT) konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass sich die für die lästigen Ohrgeräusche verantwortlichen Gehirnstrukturen bereits nach fünf Tagen verändern. Durch die, im Verlauf der Musiktherapie gemachten Lernfortschritte strukturiert sich das Hirngewebe im Hörkortex neu, das aufgrund der Tinnitus-Störung abgebaut worden war. Das aktive Hörtraining führt somit zu einer ausgesprochen raschen Veränderung des gestörten Hörcortex.
Es rauscht, piept und knackt. In Deutschland sind rund 1,5 Millionen Menschen von Tinnitus betroffen. Fast die Hälfte dieser Patienten entwickelt in der Folge schwere psychische und soziale Probleme, die bis zu einer Arbeitsunfähigkeit gehen können.
Früher ging man davon aus, dass die Wahrnehmung eines Tinnitus im Innenohr hervorgerufen wird. Deshalb ließen sich vor 20 bis 30 Jahren manche Patienten, die sehr unter ihrem Tinnitus litten, den Hörnerv durchtrennen. Mit dem Ergebnis, dass die Betroffenen zwar taub, aber immer noch nicht von ihrem Tinnitus befreit waren. Daraus schloss man, dass der Ton dem Gehirn quasi antrainiert wurde. Die zugrunde liegenden Veränderungen im Gehirn vollziehen sich in den drei bis sechs Monaten, in denen sich ein akuter in einen chronischen Tinnitus verwandelt. Dafür macht man ähnliche Mechanismen verantwortlich, wie bei der Entstehung chronischer Schmerzen. Nach einem längeren Zeitraum gehen sie nicht mehr von der ursprünglich betroffenen Stelle aus, sondern vom Gehirn. Man nimmt an, dass Tinnitus durch Hörstörungen auf ähnliche Weise entsteht, wie Phantomschmerzen. Die Ursache für die störenden Ohrgeräusche beim Tinnitus, liegt meist darin begründet, dass die Patienten bestimmte Frequenzen nicht mehr hören können. Demnach würde das Gehirn versuchen, die Hörstörung zu kompensieren, indem es die zentrale Hörbahn entsprechend hochreguliert. Die daraus resultierende Überaktivität der Hörbahn würde dann als Tinnitus wahrgenommen. Bildgebende Verfahren belegen diese Vermutung: mit ihrer Hilfe konnte man Veränderungen in der Gehirnaktivität von Tinnitus-Patienten sichtbar machen.
„Man kann sich das wie eine Klaviertastatur vorstellen, bei der eine Taste fehlt, denn das menschliche Gehör ist nach Frequenzen geordnet. Da das Gehirn den fehlenden Ton erwartet, aber nicht empfängt, versucht es diesen – analog zu einem Verstärker – lauter zu drehen. Die Folge kann eine Rückkopplung sein, die durch die Selbstanregung als Phantomgeräusch wahrgenommen wird“, erklärt der Biologe Christoph Krick, der am Neurozentrum der Saar-Universität in Homburg forscht. Seit Jahren besteht eine interdisziplinäre Forschungskooperation mit dem Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung (DZM) in Heidelberg. Bei der Neuro-Musiktherapie, die am DZM entwickelt wurde, versucht man, diese Fehlsteuerung des Gehirns rückgängig zu machen. „Auch das lässt sich über ein Klavier erklären: Wenn Sie dort einen Ton anschlagen, schwingen automatisch die Ober- und Untertöne mit, das sind Töne in anderen Oktaven. Die Tinnitus-Patienten können über das Nachsummen und Singen von Grundtönen zur meist höheren Tinnitus-Frequenz den fehlenden Ton im Gehirn rekonstruieren“, erläutert Krick. „Das Anstimmen der Untertöne des eigenen Phantomtons erscheint den Patienten anfangs eher schwierig, gelingt dann aber an jedem Therapietag besser.“
Darüber hinaus werden bei dem Therapieansatz auch verschiedene Entspannungstechniken eingesetzt, da auch der durch den Tinnitus bedingte Stress selbst dazu führen kann, dass der Phantomton wahrgenommen wird. Das therapeutische Verfahren wird laufend auf seine Wirksamkeit überprüft und verbessert. In der aktuellen Studie wurde eine intensive Kompaktversion der Therapie, die nur fünf Tage dauert, evaluiert. Zur Überraschung der Heidelberger Forscher empfanden die Patienten die Hörgeräusche bereits nach wenigen Tagen als weniger störend. Heike Argstatter vom DZM, die die Studie begleitet hat, verfügt über eine langjährige Erfahrung mit der therapeutischen Wirkung der kompakten Musiktherapie. „Erfreulich war, dass noch drei Jahre nach dem recht kurzen Therapieintervall der Therapieerfolg erhalten blieb. Zu Beginn der Studie war dennoch fraglich, ob dies womöglich auf einen Umbau im Gehirn unserer Patienten zurückzuführen sein könnte.“ Daher wollte sie wissen, welche Veränderungen die Musiktherapie im Gehirn hervorruft.
Um diese Frage zu klären, stellte Christoph Krick verschiedene Hypothesen darüber auf, welche Gehirnareale betroffen sein könnten, und überprüfte sie mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomographie (MRT). Um sicherzustellen, dass tatsächlich die Musiktherapie und die dazu gehörigen Entspannungsübungen zum Erfolg führten, wurde auch eine Vergleichsgruppe von gesunden Menschen untersucht, die dasselbe Lernprogramm absolvierten wie die Tinnitus-Patienten. Darüber hinaus gab es noch eine Gruppe nicht behandelter Tinnitus-Patienten als negative Kontrollgruppe. „Bisher war man davon ausgegangen, dass Lernfortschritte nur die Aktivitäten im Gehirn verändern, also quasi eine neue Software aufspielen. Wir konnten jedoch nachweisen, dass schon nach wenigen Tagen die Denkzellen, die den Höreindruck verarbeiten, nachgewachsen sind. Es wurde sozusagen die Festplatte des Gehirns umgebaut und zwar dauerhaft“, sagt Krick. Nach der Therapie sollten die Tinnitus-Kranken in einem Fragebogen angeben, wie stark sie von der Therapie profitiert hatten. „Bei den Patienten, die den Therapiefortschritt als besonders erfolgreich wahrgenommen haben, waren auch die stärksten Veränderungen im Gehirn zu beobachten“, erklärt der Hirnforscher. Aber auch bei den gesunden Vergleichspersonen konnten die Forscher neue Strukturen ausmachen. Bei ihnen wuchs Gewebe in Gehirnarealen, die für die Stressbewältigung wichtig sind und dabei helfen, sich zu entspannen.
Beeindruckt waren die Forscher davon, wie rasch und umfangreich die betroffenen Hirnbereiche durch die Therapie umgebaut wurden. „Der Lernvorgang hatte sich offensichtlich in das Gehirn ‚eingebrannt‘. Wir gehen davon aus, dass wir somit die Ursache des nachhaltigen Therapieerfolgs gefunden haben“, stellt Krick fest. Er glaubt, dass sich diese Erkenntnisse auch auf andere Lernerfolge übertragen lassen. Sie könnten einen neuen Blick auf die Funktionsweise des lernenden Gehirns ermöglichen.
Universität des Saarlandes, 24. März 2015
Originalpublikation:
Krick CM, Grapp M, Daneshvar-Talebi J, Reith W, Plinkert PK, Bolay HV. Cortical reorganization in recent-onset tinnitus patients by the Heidelberg Model of Music Therapy. Front Neurosci. 2015 Feb 19;9:49. doi: 10.3389/fnins.2015.00049. eCollection 2015.