Wie Lesenlernen unser Gehirn verändert

In zwei Dörfern im Norden Indiens lernten Analphabetinnen im Alter zwischen 24 und 40 Jahren in ihrer Muttersprache Hindi lesen. Durch regelmäßige Untesuchungen der Teilnehmerinnen fanden Wissenschaftler heraus, dass sich im Gehirn Areale veränderten, die bis dahin anderen Fähigkeiten zugeordnet waren. © Max-Planck-Institut für Psycholinguistik.

Lesen ist evolutionär gesehen eine junge Errungenschaft. Deshalb gibt es für sie im Gehirn noch keinen eigenen Platz. Wenn wir lesen lernen, müssen daher Hirnregionen umfunktioniert werden, die bis dahin für andere Fähigkeiten genutzt wurden. Dabei verändert sich das Gehirn viel grundlegender, als bisher angenommen.

Da Lesen evolutionär gesehen so neu ist, gibt es in unserem Gehirn kein dafür zuständiges „Leseareal“. Im Zuge des Lesenlernens muss es daher zu einer Art Umbauprozess im Gehirn kommen: Hirnareale, die ursprünglich von der Evolution für die Erkennung komplexer Objekte, wie etwa Gesichter gedacht waren, werden nun auch dafür genutzt, Buchstaben in Sprache zu übertragen. So entwickeln sich einige Regionen unseres visuellen Systems zu Schnittstellen zwischen unserem Seh- und Sprachsystem.

Bisher ging man davon aus, dass sich diese Veränderungen auf die äußere Großhirnrinde beschränken, die sich schnell an neue Herausforderungen anpasst. Doch ein internationales Forscherteam um Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik entdeckte nun Erstaunliches, als es beobachtete, was sich im erwachsenen Gehirn verändert, während wir lesen und schreiben lernen. Anders als bisher angenommen, reichen die an diesenḿ Lernprozess beteiligten Umstrukturierungen bis in den Thalamus und den Hirnstamm hinein. Im Vergleich zur verhältnismäßig sehr jungen Schrift des Menschen verändern sich also Regionen, die evolutionär gesehen recht alt sind. Dabei sind die beteiligten Hirnareale sind selbst bei Mäusen und anderen Säugetieren vorhanden.

Wenn wir lesen lernen koppeln Bereiche des Hirnstamms, die sogenannten Colliculi superiores und das sogenannte Pulvinar im Thalamus ihre Aktivitätsmuster zeitlich enger an Sehareale auf der Großhirnrinde. Thalamus- und Hirnstammkerne helfen unserer Sehrinde dabei, wichtige Informationen aus der Flut visueller Reizen herauszufiltern. Und zwar bevor wir überhaupt bewusst etwas wahrnehmen.

Lesen lernen führt zu neuroplastischen Veränderungen in einem Netzwerk, das tief ins Gehirn hineinreicht. Dieser Umbauprozess verbessert unsere visuelle Navigation durch Texte. © Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Mit zunehmender Lesefertigkeit wird die Kopplung der beteiligten Hirnregionen optimiert. Denn durch die Leseübungen wird im Laufe der Zeit die Zusammenarbeit der Hirnsysteme trainiert. So gelingt es geübten Lesern vermutlich effizienter durch Texte zu navigieren.

Analphabetinnen lernten in Indien lesen

Das interdisziplinäre Forscherteam führte ihre Studie in Indien durch. Dort gibt es immer noch 39 Prozent Analphabeten. Dabei sind vor allem Frauen betroffen. Ihnen bleibt nicht selten der Zugang zu Schulbildung und damit auch zum Lesen und Schreiben verwehrt. An der Studie nahmen nur Frauen teil. Sie waren zwischen 24 und 40 Jahren alt. Die meisten der Teilnehmerinnen konnten zu Beginn des Trainings kein einziges Wort in ihrer Muttersprache, dem Hindi, entziffern. Hindi, der Landessprache Indiens, liegt das sogenannte Devanagari zugrunde, eine Schrift, deren komplexe Zeichen häufig nicht nur für einzelne Buchstaben, sondern auch für ganze Silben oder auch Wörter stehen.

Nach sechs Monaten Unterricht erreichten die Teilnehmerinnen bereits ein Niveau, das etwa dem einer Erstklässlerin entspricht. „Dieser Wissenszuwachs ist bemerkenswert“, so Studienleiter Huettig. „Obwohl es für uns als Erwachsene sehr schwierig ist, eine neue Sprache zu lernen, scheint für das Lesen anderes zu gelten. Das erwachsene Gehirn stellt hier seine Formbarkeit eindrucksvoll unter Beweis.“

Prinzipiell hätte diese Studie auch in Mitteleuropa stattfinden können. Doch hier ist das Thema Analphabetismus so tabuisiert, dass es sehr schwierig gewesen wäre, Teilnehmer zu finden. Doch auch in Indien warteten zahlreiche Herausforderungen auf die Forscher: Um auszuschließen, dass soziale Faktoren die Ergebnisse verfälschen, kamen für sie nur Studienteilnehmerinnen der gleichen Sozialklasse aus zwei benachbarten Dörfern in Frage. Auch die Fahrten in die drei Stunden entfernte Stadt Lucknow mussten organisiert werden, um dort die Hirnscans durchzuführen.

Neue Hinweise auf Ursachen von Lese-Rechtschreib-Störung

Die erstaunlichen Lernerfolge der Studienteilnehmerinnen sind nicht nur ein hoffungsvolles Signal an erwachsene Analphabeten. Sie werfen auch ein neues Licht auf mögliche Ursachen der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Bisher wurden Fehlfunktionen des Thalamus, die zu grundlegenden Defiziten in der visuellen Aufmerksamkeit führen könnten, als eine mögliche angeborene Ursache von LRS diskutiert. „Da wir nun wissen, dass sich der Thalamus bereits nach wenigen Monaten Lesetraining so grundlegend verändern kann, muss diese Hypothese neu hinterfragt werden“, so Skeide.

Es könnte sein, dass Betroffene nur deshalb Auffälligkeiten im Thalamus zeigen, weil ihr visuelles System weniger trainiert ist. Das bedeutet, dass diese Auffälligkeiten im Thalamus nur dann als angeborene Ursache infrage kommen, wenn sie sich schon vor der Einschulung zeigen. „Genau das wollen wir nun in einer großangelegten Studie herausfinden, in der wir Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche über viele Jahre hinweg beobachten“, fügt Huettig hinzu.

Max-Planck-Gesellschaft, 24. Mai 2017

Originalpublikation:

Skeide, M., Kumar, M., Mishra, R. K., Tripathi, V.N., Guleria, A., Singh, J.P., Eisner, F., & Huettig, F. Learning to read alters cortico-subcortical cross-talk in the visual system of illiterates. Science Advances 2017. DOI: 10.1126/sciadv.1602612

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