Tinnitus und chronische Schmerzen plagen Millionen von Menschen mit sehr realen Phantom-Empfindungen. Seit mehr als dreißig Jahren weiß man, dass sich beide Erkrankungen ähneln. Aufgrund einer verbesserten Hirnbildgebung und den damit verbundenen Untersuchungsmethoden gelang es Forschern nun die strukturellen und funktionellen Grundlagen dieser Krankheiten genauer zu untersuchen. Offenbar gibt es ein zentrales Regulator-System, das sowohl bei chronischen Schmerzen als auch bei Tinnitus eine wichtige Rolle spielt.
Patienten mit subjektivem Tinnitus hören Geräusche, wo keine sind. Meist klagen Sie über ein Klingeln, Rauschen oder Summen “im Ohr”, dabei liegt die Ursache für diese Wahrnehmungen im Gehirn. Nicht selten geht der subjektive Tinnitus mit einem Hörverlust einher, doch kann dieser das Phänomen alleine nicht erklären. Außerdem leiden nicht alle Personen, bei denen der Hörnerv oder die auditiven Schaltkreisen der Großhirnrinde geschädigt sind unter einem Tinnitus. Laut einer Hypothese entwickelt sich ein Tinnitus, wenn ein übergeordnetes kognitives System, das für das „Ausblenden“ negativer sensorischer Signale zuständig ist, nicht mehr richtig funktioniert.
Diese Vorstellung geht auf Josef Rauschecker von der Georgetown University zurück, der sie 2010 vorschlug. Rauschecker untersuchte zusammen mit Hans Fischer von der Technischen Universität München wie sich das Gehirn der Betroffenen verändert hatte. Gleichzeitig analysierten sie auch die Auswirkungen von chronischen Schmerzen auf die Hinrstruktur. Dabei entdeckten sie, dass strukturelle und funktionelle Veränderungen im gleichen Hirn-Schaltkreis das Tor sowohl für Tinnitus als auch für chronische Schmerzen öffnen können. Im ventromedialen präfrontalen Kortex und dem Nucleus accumbens, einer Kernstruktur im basalen Vorderhirn kommt es zu einer fatalen Fehlfunktion, die zur Folge hat, dass die störenden Empfindungen lange über ihre eigentlich akute Ursache hinaus bestehen bleiben.
Die Forscher beobachteten bei Patienten in den vermuteten Gehirnregionen einen signifikanten Verlust an grauer Substanz und eine beeinträchtigte Funktion der Schaltkreise im Gehirn. Dabei gab es erhebliche Überschneidungen zwischen den neurologischen Veränderungen bei Tinnitus- und bei Schmerzpatienten.
Alle diese Gehirnregionen sind auch für die Bewertung und Regulierung von Sinneswahrnehmungen wichtig, sagt Rauschecker. „Diese Regionen agieren als zentrales Regulator-System, das den affektiven Wert der sensorischen Stimuli ermittelt – egal, ob der Stimulus im Gehirn entsteht oder von außen kommt – und den Informationsfluß im Gehirn reguliert. Tinnitus und chronische Schmerzen entstehen, wenn dieses System beschädigt ist“.
Die Forscher stellen die These auf, dass dieses neu identifizierte Regulator-System die Relevanz und den affektiven Wert von sensorischen Stimuli berechnet und den Informationsfluss entlang bestimmter Routen steuert, die mit sogenannten ausführenden Funktionen verbunden sind. Der Prozess wird von den beiden Neurotransmittern Dopamin und Serotonin gesteuert. Laut den Forschern beeinflussen Schäden an diesem System die Wahrnehmung sensorischer Signale so, dass entweder Tinnitus oder chronische Schmerzen entstehen können, die dann in einer sich selbst erhaltenden Schleife fortbestehen.
Die Wissenschaftler betonen, dass es im Hinblick auf mögliche Behandlungen noch eine Reihe offener Fragen gibt. Dennoch sehen sie Gründe zu vorsichtigem Optimismus. Das bessere Verständnis für die Ursache der Krankheiten könnte zu einer standardisierten Erfassung der individuellen Risiken, Tinnitus oder chronische Schmerzen zu entwickeln, führen. Dadurch könnte sich ein Weg für präventive Maßnahmen und eine sehr frühzeitige Behandlung zum Beispiel mittels kognitiver Verhaltenstherapie, Physiotherapie und medikamentöser Therapie ergeben.
Technische Universität München, 23.09.2015
Originalpublikation:
Frontostriatal Gating of Tinnitus and Chronic Pain. Josef P. Rauschecker, Elisabeth S. May, Audrey Maudoux, and Markus Ploner. Trends in Cognitive Sciences, Sept. 23 2015. DOI: 10.1016/j.tics.2015.08.002