Heringsmöwen: Immer der Nase nach ins Winterquartier

Heringsmöwe. © Marek Szczepanek. CC BY-SA 4.0

Heringsmöwe. © Marek Szczepanek. CC BY-SA 4.0

Zugvögel legen auf ihren Flügen Tausende von Kilometern zurück und erreichen ihr Ziel mit großer Genauigkeit. Wie ihnen das gelingt, ist bis heute nicht restlos verstanden. Wissenschaftler wollten herausfinden welche Sinne für die Navigation von Heringsmöwen besonders wichtig sind. Dazu haben die Forscher Vögel aus dem Grenzgebiet zwischen Russland und Finnland mit GPS-Sendern verfolgt. Zur Überraschung der Forscher ließen sich die Möwen von ihrem Geruchssinn leiten, um ihren Zugkorridor und ihr Winterquartier in Afrika zu finden. Das Erdmagnetfeld nutzten sie dagegen anscheinend gar nicht.

Um bei ihren weiten Flugrouten von ihrem Ausgangspunkt ans Ziel zu gelangen, müssen Zugvögel erst einmal die Frage beantworten: „Wo bin ich?“. Dann müssen sie sich orientieren: „Ich fliege jetzt in eine bestimmte Richtung“. Für diese beiden Aufgaben nutzen sie möglicherweise verschiedene Sinne. Zur Richtungsfindung verfügen viele Arten über einen Magnetkompass, den sie mithilfe des Sonnenuntergangwinkels eichen, denn die Sonne geht immer ziemlich genau im Westen unter. Ob auch das Erdmagnetfeld eine genaue Ortsbestimmung zulässt, ist bisher noch umstritten.

Darüber hinaus folgen die Jungvögel vieler Arten auf ihrem ersten Zug den erfahrenen älteren Tieren und prägen sich dabei Wegmarken wie Küsten, Berge oder Flüsse ein, an denen sie sich künftig orientieren. Seit einigen Jahren mehren sich die Hinweise darauf, dass Vögel zudem ihren Geruchssinn zur Positionsbestimmung nutzen. Wie Untersuchung eines internationalen Forscherteams nun zeigen konnten folgen manche Vögel auf ihrem Zug nach Süden ihrer Nase.

Wenn wir an Zugvögel denken fallen uns nicht unbedingt die Möwen ein. Obwohl manche von ihnen weite Strecken zurücklegen, wie etwa die Heringsmöwen (Larus fuscus fuscus). Sie fliegen im Spätsommer und Herbst von ihren Brutgebieten in Russland und Finnland 7500 Kilometer bis in ihre Winterquartiere in Afrika. Dabei folgen sie einem engen Korridor über das westliche Schwarze Meer und das Nildelta im Mittelmeer bis zum Victoriasee in Ostafrika. Dort verbringen sie den Winter und fliegen im Frühjahr zum Brüten wieder nach Norden.

Mithilfe von GPS-Sendern, die sie auf dem Rücken der Vögel anbrachten, verfolgten die Forscher knapp 120 Heringsmöwen auf ihrer Reise von Finnland und den russischen Solovki-Inseln bis in ihre Winterquartier. Die 30 Gramm leichten, solarbetriebenen Sender übermittelten sechsmal täglich die Position der Vögel. Die Genauigkeit betrug dabei 30 Meter.

Die Forscher wollten wissen, ob Heringsmöwen auch ohne ihren Geruchs- und Magnetsinn von einem ihnen unbekannten Startpunkt aus zum Victoriasee finden. Dazu durchtrennten sie bei einigen Vögeln unter Narkose die Geruchsnerven, bei anderen den Trigeminusnerv, der angeblich für die Wahrnehmung des Erdmagnetfelds erforderlich ist. Die durchtrennten Nerven wachsen nach wenigen Monaten wieder zusammen, sodass die Navigationsfähigkeit der Tiere nicht dauerhaft beeinträchtigt ist. Sie finden in den darauffolgenden Jahren immer wieder in ihre Brutgebiete zurück.

Heringsmöwe im Flug. © ThunderHawk1973. CC BY 3.0.

Heringsmöwe im Flug. ThunderHawk1973. CC BY 3.0.

Die Forscher transportierten die in Finnland gefangenen Vögel per Flugzeug 1250 Kilometer Richtung Südwesten auf die Insel Helgoland und ließen sie dort frei. Die Vögel aus Solovki dagegen starteten aus der 1260 Kilometer südöstlich gelegenen Stadt Kasan an der Wolga. „Unsere Annahme war, dass beide Startpunkte außerhalb des normalen Flugkorridors der Möwen liegen und die Vögel dadurch eine unbekannte Route nehmen müssen“, erklärt Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und Leiter der Studie. So konnten die Forscher herausfinden, welche Sinnesleistungen die Tiere für ihre Navigation benötigten.

Wie die Flugdaten zeigen, finden die Heringsmöwen auch von Helgoland aus zum Victoriasee. Dafür benötigen sie jedoch ihren Geruchssinn: Möwen mit durchtrenntem Geruchsnerven beendeten ihre Reise zu weit westlich in Zentralafrika. „Ohne ihre Nase merken sie offenbar nicht, dass sie weiter westlich als üblich gestartet sind. Während die unbehandelten Vögel diesen Versatz durch einen zeitweise nach Osten gerichteten Flug kompensieren, können dies die Tiere ohne Geruchssinn nicht“, erklärt Wikelski. Offenbar brauchen die Heringsmöwen keine Informationen über das Erdmagnetfeld für ihre Navigation: Denn mit durchtrenntem Trigeminusnerv fanden sie ihr Ziel genauso sicher, wie ihre unbehandelten Artgenossen.

Eine Analyse der Flugroute ergab, dass die versetzen Möwen ihre Flugrichtung immer dann nach Osten ausrichteten, wenn ihr Geruchssinn funktionierte und sie „eine Nase voll Duft“ von Orten auf ihrer Zugroute erhielten. Sie nutzten also nicht prägnante Wegmarken wie etwa die afrikanische Mittelmeerküste, um ihren Flug neu auszurichten. Welchen Gerüchen die Vögel dabei folgen, wissen die Forscher noch nicht. Klar ist nur: „Die Gerüche müssen mindestens 300 Kilometer weit durch die Luft übertragen werden. Einzelne Geruchsposten auf der Route wie das Schwarze Meer oder das Nildelta geben wohl die grobe Flugrichtung vor“, erklärt Wikelski.

Zur Verwunderung der Wissenschaftler fanden alle Vögel von Kasan aus das Ziel – auch ohne ihren Geruchssinn. Im Unterschied zu den von Helgoland gestarteten Möwen änderten hier auch die Tiere mit den durchtrennten Geruchsnerven ihre Flugrichtung entsprechend. „Unsere Daten zeigen, dass Kasan gar nicht außerhalb des natürlichen Flugkorridors der Heringsmöwen liegt, wie wir dachten, sondern innerhalb. Die Vögel kannten deshalb die Route und orientierten sich an vertrauten Punkten der Landschaft ohne ihren Geruchssinn“, sagt Wikelski.

Heringsmöwen benötigen also ihre Nase zur Navigation, ihr Magnetsinn und Informationen von Artgenossen scheinen dagegen keine oder nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. „Dass sich die Möwen auf ihren Geruchssinn verlassen, war für uns eine große Überraschung. Zwar vermutet man aufgrund theoretischer Navigationsmodelle schon länger, dass sich die Navigationsleistungen vieler Zugvögel und Meeressäuger nur durch den Geruch erklären lassen. Trotzdem war diese These bis vor kurzem höchst umstritten“, sagt Wikelski. Welche Rolle das Erdmagnetfeld und andere Navigationssysteme wie die Sterne für die Navigation beim Vogelzug spielen, ist noch weitgehend unklar.

Max-Planck-Gesellschaft, 24. November 2015

 

Originalpublikation:

Martin Wikelski, Elena Arriero, Anna Gagliardo, Richard Holland, Markku J. Huttunen , Risto Juvaste, Inge Mueller, Grigori Tertitski, Kasper Thorup, Martin Wild, Markku Alanko, Franz Bairlein, Alexander Cherenkov, Alison Cameron, Reinhard Flatz, Juhani Hannila, Ommo Hüppop, Markku Kangasniemi, Bart Kranstauber, Maija-Liisa Penttinen, Kamran Safi, Vladimir Semashko, Heidi Schmid & Ralf Wistbacka. True navigation in migrating gulls requires intact olfactory nerves. Nature Scientific Reports, 24. November 2015 DOI: 10.1038/srep17061

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