Chemotherapeutika greifen nicht nur Krebszellen, sondern generell sich schnell teilende Gewebe an. Nebenwirkungen wie Haarausfall oder Übelkeit bis hin zu tödlichen Infektionen können die Folge sein. Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) haben nun entdeckt, dass der pflanzliche Wirkstoff Rocaglamid gesunde Zellen vor der toxischen Wirkung der Chemotherapeutika schützt. Diese Erkenntnis könnte die Krebstherapie in Zukunft möglicherweise verträglicher machen.
Die meisten Chemotherapeutika schädigen die DNA von sich schnell teilenden Zellen. Dazu gehören nicht nur Krebszellen, sondern auch gesunde Zellen wie Blut-, Haarfollikelzellen oder die Schleimhautzellen in Magen und Darm. Bislang gibt es nur wenige Medikamente, die die Nebenwirkungen auf gesundes Gewebe direkt verhindern können. Ob durch einige dieser Medikamente auch die Krebszellen selbst vor den Chemotherapeutika geschützt werden, ist noch nicht geklärt. Deshalb suchen Wissenschaftler um Dr. Min Li-Weber vom DKFZ nach neuen Wirkstoffen. „Rocaglamid war einer von vielen pflanzlichen Substanzen, die wir getestet haben“, sagt Studienleiterin Min Li-Weber. „Der Wirkstoff wird aus Kräutern gewonnen und seit vielen Jahren in der chinesischen Medizin beispielsweise gegen Entzündungen eingesetzt.“
Um herauszufinden, ob Rocaglamid gesunde Zellen vor den Chemotherapeutika schützt, haben die Forscher weiße Blutkörperchen von gesunden Spendern mit verschiedenen Chemotherapeutika behandelt und unterschiedliche Konzentrationen an Rocaglamid zugesetzt. Das Ergebnis: „Je höher die Menge an Rocaglamid war, desto mehr weiße Blutkörperchen haben überlebt“, berichtet Min Li-Weber. Auf die Überlebensrate der im Versuch verwendeten Krebszelllinien hatte der Wirkstoff dagegen keinen Einfluss.
Und wie genau wirkt Rocaglamid? Kann es die DNA-Schäden in gesunden Zellen sogar verhindern? Die Wissenschaftler verglichen dafür den Zustand der DNA nach der Gabe eines Chemotherapeutikums entweder mit oder ohne Rocaglamid. „Die Schäden waren nahezu identisch“, sagt Erstautor Michael Becker. „Das bedeutet zum einen, dass Rocaglamid die Wirkung der Chemotherapeutika nicht direkt verhindert. Zum anderen heißt es aber auch, dass der Wirkstoff selbst keine DNA-Schäden verursacht.“
In weiteren Tests fanden die Wissenschaftler heraus, dass Rocaglamid die Produktion des Proteins p53 blockiert. Dieses Protein, auch „Wächter des Genoms“ genannt, wird von Zellen mit DNA-Schäden gebildet. Dabei hat p53 folgende Aufgabe: Es aktiviert ab einem bestimmten Schwellenwert den sogenannten programmierten Zelltod und sorgt so dafür, dass die fehlerhafte Zelle abstirbt. „Rocaglamid verhindert also, dass gesunde Zellen nach Kontakt mit einem Chemotherapeutikum das Protein p53 bilden und so den programmierten Zelltod aktivieren“, erläutert Michael Becker. „Und weil p53 bei etwa der Hälfte aller Krebsarten in den Krebszellen fehlt oder defekt ist, hatte Rocaglamid in unseren Tests keinen Einfluss auf die Krebszellen.“ Patienten mit Tumoren, die kein p53 haben, könnten also möglicherweise von Rocaglamid profitieren, denn der Wirkstoff schützt in diesem Fall ausschließlich die gesunden Zellen vor den Chemotherapeutika.
Doch was ist die Konsequenz, wenn Zellen mit DNA-Schäden nicht sofort absterben? Entstehen so möglicherweise neue Krebszellen? „Zahlreiche Versuche in anderen Laboren haben ergeben, dass ein kurzfristiges Blocken von p53 zu keinem erhöhten Krebsrisiko führt“, berichtet Michael Becker. „Ob das auch für Rocaglamid gilt, wollen wir als nächstes herausfinden.“ Eine Vermutung, warum p53-Blocker das Krebsrisiko nicht erhöhen, hat der Forscher bereits: „Es könnte sein, dass die Zellen so mehr Zeit haben, ihre DNA-Schäden zu reparieren.“ Doch das ist nur eine Hypothese, die es ebenfalls zu überprüfen gilt.
Becker MS, Schmezer P, Breuer R, Haas SF, Essers MA, Krammer PH, Li-Weber M. (2014) The traditional Chinese medical compound Rocaglamide protects nonmalignant primary cells from DNA damage-induced toxicity by inhibition of p53 expression. Cell Death Dis. doi: 10.1038/cddis.2013.528
vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). 7. April 2014