Die meisten Krebserkrankungen entstehen zufällig

© Heiti Paves. CC BY-SA 3.0. Wikimedia Commons.

Die meisten Krebsfälle sind dem Zufall geschuldet. Zu diesem Schluss kommen Forscher, die Krebsstatistiken mit den Zellteilungsraten der betroffenen Gewebe verglichen. Demnach spielen der Lebensstil und ererbte Mutationen bei den meisten Krebsarten nur eine untergeordnete Rolle. Ausnahmen hiervon sind Lungen- und Hautkrebs, bei denen Umweltfaktoren als Ursache überwiegen. Wobei Lungenkrebs vor allem durch Rauchen hervorgerufen wird und Hautkrebs durch zu intensives Sonnenbaden. Prostata-, Gehirn- und Knochenkrebs gehen dagegen fast ausschließlich auf das Konto von Zufallsmutationen.

Bei der Teilung muss das Erbgut einer Zelle dupliziert werden. Dabei kann es zu Fehlern kommen, die durch Ungenauigkeiten der Proteinmaschinerie hervorgerufen werden, die das Erbgut abliest und kopiert. Um die Anzahl solcher Fehler möglichst gering zu halten verfügt jede Zelle über umfangreiche Reparaturmechanismen. Doch die meisten Mutationen bleiben ohnehin ohne Folgen, da sie entweder in Regionen auf dem Erbgut liegen, wo sie keine Auswirkungen haben. Denn viele Regionen in unserem Erbgut kodieren nicht für Gene. Oder die Mutationen führen zwar zu einem Basenaustausch in der DNA, nicht jedoch in dem betroffenen Protein. Denn der genetische Code ist redundant, das heißt, es gibt mehrere Basenkombinationen, die für die gleiche Aminosäure kodieren. Auch löst eine einzelne Mutation noch lange keinen Krebs aus. Sie kann jedoch dazu führen, dass sich etwa die betroffene Zelle öfter teilt und so Gelegenheiten für weitere Mutationen auftreten. Erst wenn mehrere Mutationen zusammen kommen, die es der Zelle erlauben sich ungebremst zu teilen, das ihr zugewiesene Gewebe zu verlassen, im Blutstrom zu überleben und sich an einem anderen Ort im Körper anzusiedeln entsteht ein aggressiver Tumor. Um diese Eigenschaften zu erlangen muss also in der Zelle einiges schief gehen.

Bisher lautete die gängige Lehrmeinung, dass für eine solche Entartung einer Zelle vor allem Umweltfaktoren und bereits ererbte Mutationen verantwortlich sind. Kennt man doch einige Toxine, wie etwa Benzopyren im Tabakrauch, die nach Aktivierung in der Leber Mutationen auslösen können. Da wir unser Leben lang verschiedensten solcher Gifte ausgesetzt sind vermutete man, dass diese für die Krebsentstehung verantwortlich sind und sich Krebs folglich vermeiden ließe, wenn man diese Substanzen meidet.

Doch diese Theorie berücksichtigt nicht die Tatsache, dass sich die Stammzellen verschiedener Gewebe unterschiedlich oft teilen. Manche Gewebe, wie etwa die Zellen in unserem Darm oder die unserer Haut teilen sich sehr oft in unserm Leben. Andere, wie etwa solche in unserem Gehirn, tun dies sehr selten. Je öfter sich jedoch eine Stammzelle teilt, desto mehr Gelegenheiten ergeben sich, bei denen es zu Kopierfehlern in der DNA kommen kann. Das bewog den Genetiker Bert Vogelstein und den Mathematiker Cristian Tomasetti zu einer neuen Hypothese: Lässt sich die Häufigkeit der verschiedenen Krebsarten mit der unterschiedlichen Teilungsrate der jeweils beteiligten Gewebe erklären? Die Antwort lautet: In Zwei Dritteln aller Fälle Ja. Das Ergebnis ihrer ersten, 2015 veröffentlichten Studie führte bei den meisten Krebsforschern zu einem Aufschrei der Empörung. Brachte es doch nicht nur lange für wahr gehaltene Vorstellung über die Krebsentstehung ins Wanken, sondern ließ auch die Kollegen um die Finanzierung ihrer Forschung fürchten. Lag doch ihr wichtigstes Forschungsziel in der Prävention von Krebs und nicht in einer möglichst frühen Erkennung und deren Behandlung. Viele argumentierten die Studie habe Schwächen, da sie nur Krebsfälle aus den USA berücksichtige und die weit verbreiteten Tumorarten Brust- und Prostatakrebs nicht abdeckte. In ihrer neuen Arbeit bezogen die Forscher daher die Krebsfälle von 69 verschiedenen Ländern ein. In diesem großen Datensatz war auch die Fallzahl von Brust- und Protatakrebs umfassend genug, um sie in die Studie mit aufzunehmen. Die neue Studie bestätigte das vorherige Ergebnis der Forscher, nach dem Zwei Drittel der Krebserkrankungen sich durch rein zufällige Mutationen erklären lassen.

Vogelstein und sein Team zweifelten darüber hinaus nie daran, dass Zigarettenrauch oder Sonnenstrahlung Krebs auslöst, der sich vermeiden lässt. Die Forscher suchten in ihren Daten auch nach Mutationen, die auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind. Dabei wird allerdings implizit vorausgesetzt, dass alle Mutationstypen bereits bekannt sind, die durch Substanzen aus der Umwelt ausgelöst werden, wie Kritiker bemängelten. Laut den Forschern ist diese Umweltrate bei jeder Krebsart anders: So gehen etwa bei Lungenkrebs ganze 65% der Mutationen auf Toxine aus der Umwelt zurück und nur 35% traten rein zufällig auf. Das andere Extrem bilden Prostata-, Gehirn- und Knochenkrebs: Hier gehen 95% der Mutationen auf das Konto von einfachen Kopierfehlern bei der DNA-Replikation.

Bei 32 weiteren Krebsarten fanden sie 66% Zufallsmutationen, 29% durch Umwelteinflüsse hervorgerufen und 5% durch genetische Veranlagung verursacht.

Vogelstein und sein Team hoffen, dass die Ergebnisse unter anderem dazu beitragen Patienten und deren Familien von den Schuldgefühlen zu befreien, die ihnen durch die klassische Sichtweise der Krebsentstehung nicht selten vermittelt werden. Denn die meisten Krebsfälle scheinen unabhängig von unserem Lebensstil aufzutreten. Sie hängen vor allem von der Teilungsrate unserer Gewebsstammzellen ab. Deshalb steigt auch die Zahl der Krebskranken in Ländern mit wachsendem Lebensstandard, denn je länger wir leben, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir an Krebs erkranken. Der eine früher und der andere später.

von Ute Keck, 29. März 2017

Originalpublikation:

Tomasetti C, Li L, Vogelstein B. Stem cell divisions, somatic mutations, cancer etiology, and cancer prevention. Science. 2017 Mar 24;355(6331):1330-1334. doi: 10.1126/science.aaf9011.

Tomasetti C, Vogelstein B. Cancer etiology. Variation in cancer risk among tissues can be explained by the number of stem cell divisions. Science. 2015 Jan 2;347(6217):78-81. doi: 10.1126/science.1260825.

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