Warum erkrankt der eine an Grippe und der anderer bleibt den ganzen Winter über davon verschont? Angesichts der, zur Zeit weit verbreiteten Bemühungen, viele Erkrankungen auf genetische Ursachen zurückzuführen, würde manch einer vermutlich annehmen, dass die Anfälligkeit für Grippe wohl in den Genen zu suchen ist. Das ist jedoch weit gefehlt, wie eine Studie an Zwillingen jetzt belegen konnte. Demnach wird unsere immunologische Fitness im wesentlichen durch unsere Umwelt bestimmt – will heißen, mit welchen Keimen unser Immunsystem im Laufe unseres Lebens konfrontiert wurde. Folgerichtig verstärken sich die, zwischen eineiigen Zwillingen bestehenden Unterschiede in der immunologischen Fitness mit zunehmendem Alter.
Die Gene bilden nur die Grundlage für das Training unseres hoch komplexen Immunsystems an der Front gegen mögliche Eindringlinge. Es besteht aus Heerscharen verschiedenster weißer Blutzellen, Signalproteinen und Keime neutralisierenden Antikörpern, die alle in unserem Blutkreislauf zirkulieren und Ausschau nach möglichen Eindringlingen halten. Das Immunsystem jedes einzelnen Menschen ist individuell verschieden und besteht aus einer einzigartigen Mischung der einzelnen Komponenten.
Das Immunsystem ist hochgradig anpassungsfähig
Wissenschaftler wissen schon lange, dass sich unser Immunsystem massiv an seine Umwelt anpasst. Diese Fähigkeit macht man sich beispielsweise bei Impfungen zu Nutze, indem man die Immunzellen mit Hilfe eines harmlosen Keimes gegen seine virulentere Variante trainiert.
Im Zuge der rasanten Fortschritte bei der Genom-Sequenzierung haben sich viele Wissenschaftler darauf fokussiert die Bedeutung genetischer Abweichungen für die Krankheitsentstehung zu erforschen. Sie hoffen von minimalen Mutationen auf den zukünftigen Gesundheitszustand eines Menschen schließen zu können. Mit solchen Untersuchungen konnte die Bedeutung von Mutationen für die Ausprägung mancher Krankheiten belegt werden. Aber im Gegensatz zur großen Beliebtheit genetischer Studien bei den Wissenschaftlern ist, von einigen Ausnahmen abgesehen, der tatsächliche Beitrag einzelner, genetischer Varianten zum Gesundheitszustand eines Menschen vergleichsweise gering.
Zwillingsstudie sollte Aufschluss darüber geben, ob die Gene oder die Umwelt unsere immunologische Fitness mehr beeinflussen
Mit seiner Zwillingsstudie wollte Mark Davis von der Stanford Universität in Palo Alto, Kalifornien, der in manchen Kreisen inzwischen weit verbreiteten Meinung entgegentreten, man brauche nur das Genom eines Menschen zu sequenzieren, um vorherzusagen, an welchen Krankheiten er im Laufe seines Lebens erkranken wird. Tatsächlich ist das Immunsystem extrem anpassungsfähig. Nur so gelingt es ihm unerwartet auftretende Infektionen, Verletzungen oder Tumoren erfolgreich zu bekämpfen. Wegen dieser hohen Anpassungsfähigkeit gehört unser Immunsystem zu den komplexesten Systemen des menschlichen Körpers.
Anders als die massiv ingezüchteten Labormäuse, mit denen die Wissenschaftler so gerne arbeiten, unterscheiden wir Menschen uns genetisch ziemlich stark voneinander. Gleiches gilt für unsere Immunsysteme. Mark Davis und sein Team stellten sich daher die Frage, woher die Unterschiede in unseren Immunsystemen stammen: Ob sie genetisch bedingt sind oder durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden.
Um diese Frage zu klären bediente sich das Forscherteam der alt bewährten Methode der Zwillingsstudie. Dazu verglichen sie sowohl eineiige, als auch zweieiige Zwillingspaare. Eineiige Zwillinge verfügen über identische Genome, wenn man einmal von den wenigen Kopierfehlern absieht, die bei den einzelnen Zellteilungen auftreten können. Zweieiige Zwillingen dagegen sind sich genetisch genauso ähnlich, wie normale Geschwister: Sie besitzen 50% gemeinsamer Gene.
Da beide Zwillingsgruppen während ihrer Entwicklung in der Gebärmutter und in ihrer Jugend den gleichen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind, kann man mit ihrer Hilfe optimal herausfinden, welche Effekte auf die genetische Veranlagung und welche auf Umwelteinflüsse zurückgehen.
Bereits vor zwei Jahrzehnten hatte Gary Swan zu Forschungszwecken 2000 Zwillinge registriert. Aus dieser Gruppe wählten die Forscher nun 78 eineiige und 27 zweieiige Zwillingspaare aus und nahmen ihnen für die Studie an drei verschiedenen Terminen Blut ab. Anschließend erfassten die Wissenschaftler mehr als 200 verschiedene immunologisch relevante Parameter. So bestimmten sie etwa 95 verschiedene Immunzelltypen und 51 unterschiedliche Proteine.
Umwelt entscheidender als Gene
Bei der Untersuchung der verschiedenen Mengen und Aktivitätszustände dieser Parameter fanden die Wissenschaftler in drei Viertel der Messungen Belege für nicht-erbliche Einflüsse. Diese führten sie auf die unterschiedlichen Einflüsse von Mikroorganismen, Giften, Impfungen oder die Ernährung zurück. Dieser Effekt war bei älteren (über 60 Jahre alten) identischen Zwillingen ausgeprägter, als bei Jungen (unter 20 Jahre alten). Da die Zwillinge mit zunehmendem Alter immer unterschiedlicheren Umwelteinflüssen ausgesetzt waren entwickelten sie folglich mit der Zeit auch immer größere Unterschiede in ihrem Immunstatus.
Impfantwort hängt von Training des Immunsystems ab
Die Forscher untersuchten auch die Reaktion der Zwillingspaare auf eine Grippeimpfung. Auf Impfungen reagieren unsere Immunsysteme individuell sehr verschieden. Der einer bildet mehr und der andere weniger Antikörper. Diese Proteine bildet unser Körper durch eine hochkomplexe Mini-Evolution: Die Antikörper-bildenden B-Zellen bringen dazu erst eine Vielzahl von Varianten hervor. Anschließend werden daraus, durch Testen an den zu bekämpfenden Invasoren, diejenigen herausgefischt und optimiert, die sich zur Eliminierung der Angreifer am besten eignen. Anschließend werden diese Antikörper in großer Menge hergestellt. Wenn dieser Prozess der Antikörperproduktion rein genetischen Mechanismen unterliegen würde, sollten die Immunantworten der eineiigen Zwillinge sehr ähnlich ausfallen. Wie die Wissenschaftler zeigen konnten, unterschieden sich jedoch auch die eineiigen Zwillingen so stark in ihrer Reaktion auf den Impfstoff, dass die Unterschiede darauf zurückzuführen sind, dass die Zwillinge im Laufe ihres Lebens mit verschiedenen Grippestämmen konfrontiert wurden.
Chronische Infektionen haben drastische Auswirkungen auf unser Immunsystem
Weiter analysierten die Wissenschaftler, welche Auswirkung eine chronische Infektion mit Cytomegalievirus auf das Immunsystem hat. Dieses Virus ist in der Bevölkerung weit verbreitet: Drei von fünf Amerikanern und neun von zehn Einwohnern von Entwicklungsländern sind mit dem Virus infiziert. Es verursacht meist keine Symptome und wird nur für Patienten gefährlich deren Immunantwort unterdrückt ist. Eineiige Zwillingspaare, bei denen einer mit dem Virus infiziert war und der andere nicht, unterschieden sich in ihren immunologischen Parametern wesentlich deutlicher voneinander, als solche, die beide nicht infiziert waren. Diese virale Infektion hatte weitreichende Konsequenzen für den immunologischen Status einer Person: Sie beeinflusste fast 60% der erfassten Parameter. Das ist ein weiterer eindeutiger Beleg dafür, dass die Umweltfaktoren einen wesentlich größeren Einfluss auf unsere immunologische Fitness haben, als unsere Erbanlagen.
Es scheinen also vornehmlich nicht-erbliche Einflüsse aus der Umwelt zu sein, die unser Immunsystem formen. Hierbei spielen besonders Mikroorganismen, mit denen sich unser Immunsystem auseinandersetzten muss eine wichtige Rolle. Vor allem in unserer Jugend, während es noch ausreift, passt sich dieses unglaublich wandlungsfähige System an die verschiedensten Umweltfaktoren an. Im Laufe unseres weiteren Lebens geht dieser Prozess ständig weiter, indem es lernt mit allen möglichen Faktoren, die ihm begegnen, fertig zu werden: Seien es nun Krankheitserreger, Bakterien, die unseren Magen-Darm-Trakt besiedeln, Bestandteile unserer Nahrung oder Tumorzellen. Unsere Gene bilden für diese komplexen Anpassungsprozesse zwar die Grundlage, aber aus der Kenntnis ihrer Beschaffenheit lässt sich alleine unmöglich vorhersagen, wie die Zusammensetzung seiner Komponenten bei uns im Alter von 50 Jahren aussehen wird. Denn niemand kann wissen, welche immunologisch relevanten Faktoren uns bis dahin begegnen werden.
Andere hoch komplexe Systeme könnten sich ähnlich verhalten
Wie die Autoren in ihrer Studie betonen, könnten auch andere hoch komplexe Systeme im menschlichen Organismus maßgeblich durch Umwelteinflüsse geformt werden. Dies könnte insbesondere bei unserem Nervensystem und den damit verbundenen Krankheiten der Fall sein.
von Ute Keck
Originalpublikation:
Brodin P, Jojic V, Gao T, Bhattacharya S, Angel CJ, Furman D, Shen-Orr S, Dekker CL, Swan GE, Butte AJ, Maecker HT, Davis MM. Variation in the human immune system is largely driven by non-heritable influences. Cell. 2015 Jan 15;160(1-2):37-47. doi: 10.1016/j.cell.2014.12.020.