Synthetische Biologie: Die sich wandelnde Wunderkugel

Das künstliche Zellsystem bildet faszinierende Formen und Bewegungsmuster aus. Selbst Scheinfüsschen (Pseudopodien), wie normale Zellen sie für die Fortbewegung nutzen, bilden sich aus.© Keber, Loiseau, und Bausch / TUM

Das künstliche Zellsystem bildet faszinierende Formen und Bewegungsmuster aus. Dabei entstehen selbst Scheinfüßchen (Pseudopodien), wie normale Zellen sie für die Fortbewegung nutzen.© Keber, Loiseau, und Bausch / TUM

Erstmals ist es gelungen ein künstliches Zellsystem zu konstruieren, das sich alleine verformen und bewegen kann. Dafür entwickelten die Wissenschaftler ein minimalistisches System, das aus nur vier Komponenten besteht.

Natürliche Zellen sind hoch komplexe, von ihrer Umgebung abgegrenzte, eigenständige und sich selbsterhaltende Systeme. Sie verfügen über eine Vielzahl von Molekülen, die existentielle Aufgaben für sie erfüllen: Um Nährstoffe aufzunehmen und daraus mit Hilfe ihrer Stoffwechselprozesse Energie zu gewinnen. Um sich aktiv auf ein Ziel hin zu bewegen und vor negativen Einflüssen zu fliehen. Um sich zu vermehren, so dass durch die Teilung einer Zelle zwei neue Zellen entstehen können. Alle Informationen für diese verschiedenen Funktionen und Aktivitäten liegen den Zellen in ihrem Erbgut vor.

Der evolutionäre Vorfahre unserer heutigen Zellen, die Urzelle war dagegen vermutlich viel einfacher aufgebaut: Sie soll aus einer einfachen Membran bestanden haben in deren Inneren sich nur wenige Moleküle befanden. Dennoch soll dieses minimalistische System der Urzelle bereits perfekt funktioniert haben. An einem so einfach aufgebauten System kann man die Funktionsweise einzelner Komponenten einer Zelle wesentlich besser erforschen, als an den komplexen heutigen Zellen. Ist man beispielsweise daran interessiert zu erforschen, wie der Bewegungsapparat einer Zelle funktioniert, dann wäre dieses System in einer normalen Zelle nur ein System unter vielen anderen. Man könnte dann nie genau bestimmen ob beobachtete Effekte direkt auf die Manipulationen der Wissenschaftler zurück zu führen sind, oder ob es sich dabei um Nebeneffekte handelt, die auf eine Reaktionen anderer Systeme der Zelle zurückgehen. Bei einem einfacheren System kann man solche Nebeneffekte eher ausschließen. Deshalb haben sich Andreas Bausch und sein Team von der Technischen Universität München zum Ziel gesetzt ein einfaches Zellmodell aus nur wenigen Bausteinen zusammenzusetzen, das sich selbst aktiv verformen und bewegen kann.

Künstliches Minimalmodell für Zellverformungen. Die eingeschlossenen Biomoleküle bilden einen spindelartige Form an der Membran, die eine fortwährende Bewegung antreibt. © Keber, Loiseau, Sanchez, Bausch/TUM

Künstliches Minimalmodell für Zellverformungen. Die eingeschlossenen Biomoleküle bilden eine spindelartige Form an der Membran, die durch die fortwährenden Bewegung der Kinesinmoleküle angetrieben wird. © Keber, Loiseau, Sanchez, Bausch/TUM

Das System der Wunderkugel

Das Zellmodell der Biophysiker besteht aus nur vier Komponenten: einer Membranhülle, zwei verschiedenen Biomolekülen und einem Kraftstoff der Zelle. Die Hülle, auch Vesikel genannt, besteht aus einer zweischichtigen Lipidmembran, wie sie auch natürliche Zellen besitzen. In diese Vesikel füllten die Wissenschaftler Mikrotubuli, röhrenförmige Bausteine des Zellskeletts. Dazu gaben sie noch Kinesinmoleküle. Diese Moleküle erfüllen in der Zelle die Aufgabe molekularer Motoren, die verschiedenste andere Moleküle an den Mikrotubuli entlang transportieren können. Im Experiment sollten die Kinesinmoleküle einfach nur die röhrenförmigen Mikortubuli aneinander entlang bewegen. Für diese Bewegung benötigen die Kinesine den Kraftstoff ATP, den die Wissenschaftler ebenfalls zu den Vesikeln hinzu gaben.

Unter den Versuchsbedingungen bilden die Mikrotubuli-Röhrchen direkt unterhalb der Membran eine Art Flüssigkristallschicht, die durch die Bewegung der Kinesine ständig in Bewegung ist: „Man kann sich diese Flüssigkristallschicht vorstellen wie Baumstämme, die auf einem See treiben“, erklärt Felix Keber, Erstautor der Studie. „Wird es zu dicht, ordnen sie sich parallel an und können doch noch aneinander vorbei treiben.“

Ozillierende Bewegung dank Polen

Die Bewegung des künstlichen Zellsystems kommt dadurch zustande, dass der kugelförmige Flüssigkristall bereits im Ruhezustand Pole enthält. Mathematisch lässt sich dieses Phänomen mit dem Poincare-Hopf Theorem erklären, oder anschaulicher mit dem „Satz des Igels„. Er besagt, dass man die Stacheln eines Igels nie so bürsten kann, dass keine kahle Stelle entsteht. Genauso können sich auch die Mikrotubuli nicht alle an der kugeligen Membranwand gleichmäßig ausrichten ohne einen Pol zu bilden. Daher stellen sich die Mikrotubuli-Röhrchen an einigen Stellen leicht quer zueinander. Sie gehorchen dabei einer ganz bestimmten Geometrie. Wegen der Aktivität der Kinesinmoleküle bewegen sich die Mikrotubuli ununterbrochen aneinander entlang, was ein ständiges Hin- und Herwandern der Pole zur Folge hat. Dabei entsteht eine erstaunlich gleichmäßige und periodische Bewegung: Die Mikrotubuli oszillieren zwischen zwei definierten Anordnungen.

Es entstehen, wie bei lebenden Zellen, Scheinfüßchen

Im kugelförmigen Zustand haben die Pole keinen Einfluss auf die äußere Form der Membran. Sobald jedoch dem Vesikel durch Osmose Wasser entzogen wird, beginnt er sich durch die Bewegung der Mikrotubuli in seinem Inneren zu verformen. Nach einem starken Wasserverlust können sich aus überschüssigen Membranbereichen sogar lange Ausstülpungen, sogenannte Scheinfüßchen (Pseudopodien) bilden, wie sie einige Zellen zur Fortbewegung nutzen.

Unter diesen Bedingungen bildet die künstliche Zelle faszinierend viele verschiedene Formen und Bewegungsmuster aus. Auf den ersten Blick erscheinen diese Phänomene beliebig aufzutreten. Doch tatsächlich gehorchen sie strengen physikalischen Gesetzen, die die Wissenschaftler anhand ihres Modellsystems entschlüsseln konnten. Sie können dann als Grundlage für Vorhersagen bei anderen Systeme dienen.

Mit ihrem synthetischen Zellmodell haben die Wissenschaftler nun eine System an der Hand, bei dem sie Schritt für Schritt die Komplexität erhöhen können, um kontrolliert zelluläre Prozesse, wie etwa die Zellwanderung oder die Zellteilung zu erforschen. Nachdem das vorliegende System komplett physikalisch beschrieben werden kann hoffen die Wissenschaftler, dass dies auch bei weiteren Experimente gelingen könnte, bei denen sie verschiedenste Zellverformungen untersuchen wollen.

von Ute Keck

Video von den sich wandelnden Wunderkugeln

 

Felix C. Keber, Etienne Loiseau, Tim Sanchez, Stephen J. DeCamp, Luca Giomi, Mark J. Bowick, M. Cristina Marchetti, Zvonimir Dogic and Andreas R. Bausch. Topology and dynamics of active nematic vesicles. Science, 5. September 2014. DOI: 10.1126/science.1254784

 

Kommentare sind geschlossen.