Die unermessliche genetische Vielfalt eines Tumors

Tumore weisen eine erstaunliche genetische Heterogenität auf, was ihre Behandlung erschwert. © Martin Büdenbender  / pixelio.de

Tumore weisen eine erstaunliche genetische Heterogenität auf, was ihre Behandlung erschwert. © Martin Büdenbender / pixelio.de

Biopsien vermitteln nur eine sehr begrenzte Übersicht über die genetische Vielfalt eines Tumors. Denn die genetischen Eigenschaften von Tumorzellen variieren, je nachdem, von welcher Stelle des Tumors und seiner Metastasen die Probe stammt. Die verschiedenen Zellen eines Tumors können eine Vielzahl unterschiedlicher Genome besitzen, was ihre Behandlung erschwert.

Genome von Tumoren können eine erstaunliche genetische Vielfalt aufweisen. Nicht nur die Gene einer Tumorart, wie beispielsweise Brustkrebstumore, unterscheiden sich oft massiv voneinander. Selbst die Tumorzellen eines einzelnen Patienten tragen unterschiedliche Mutationen, wie britische Wissenschaftler im New England Journal of Medicine 2012 zum ersten Mal berichteten. Ihre Forschungsergebnisse machen verständlich, warum Krebs so schwer zu verstehen und behandeln ist. Je nachdem, von welcher Stelle des Tumors eine Biopsie stammt, kann der Arzt zu widersprüchlichen Ergebnisse kommen, was die Prognose oder beste Therapie angeht.

Die Konsequenzen für die Tumortherapie lassen im Vergleich dazu einen Flug zum Mond, wie einen Spaziergang im Park erscheinen

Laut Charles Swanton vom Londoner Cancer Research Institute, der das Forschungsprojekt leitete, sorgt dies für eine zusätzliche Komplexitätsebene, die im Vergleich dazu einen Flug zum Mond wie einen Spaziergang im Park erscheinen lässt, wie er in einem Interview gegenüber der Fachzeitschrift Nature äußerte.

Während einer klinischen Studie untersuchte Swanton’s Team die Tumore von vier Nierenkrebspatienten. Sie entnahmen Proben von unterschiedlichen Bereichen des Primärtumors in der Niere, sowie von dessen Metastasen, die sich in anderen Organen angesiedelt hatten. Um die Heterogenität jedes Tumors zu bestimmten, erfassten sie alle vorhanden Genmutationen, Veränderungen der Chromosomenstruktur und Vervielfältigungen von Chromosomen. Anschließend analysierten sie die funktionellen Auswirkungen dieser Veränderungen in den betroffenen Geweben und Zellen. Obwohl sich die Wissenschaftler aller verfügbare Techniken zur Bestimmung genetischer Veränderungen bedienten, wurden sie das Gefühl nicht los, nur an der Oberfläche der Heterogenität der Tumore zu kratzen.
Das Forscherteam erstellte mit den gewonnen Daten einen evolutionären Verlauf der Tumorentwicklung jedes Patienten. Der Tumor des ersten Patienten hatte sich in zwei Linien aufgespalten. Ein kleinerer Teil der Zellen des Primärtumors hatte seinen Chromosomensatz verdoppelt. Von ihm stammten alle Metastasen in der Brust des Patienten ab. Der andere Teil machte den Rest der Masse des Primärtumors aus. Auch bei den anderen Patienten beobachteten die Forscher eine ähnliche evolutionäre Entwicklung des Tumors.

Die genetischen Veränderungen im Detail

Der Primärtumor des ersten Patienten zeigte eine überraschende Vielfalt. Nur ein Drittel der Mutationen war in allen 14 Proben vertreten. Ein Viertel dagegen kam nur in einer einzigen Probe vor. Nur ein bekanntes Nierenkrebsgen – VHL (Von-Hippel-Lindau-Syndrom Gen) – war in jeder Probe mutiert. Das VHL Gen ist ein sogenanntes Tumorsuppressorgen, das normalerweise einer Entstehung von Krebs entgegen wirkt. Swanton und sein Team fanden sogar Hinweise darauf, dass in Tumoren eine kovergente Evolution stattfinden kann: Verschiedene Zellpopulationen des gleichen Tumors hatten das selbe Gen – die Histon H3K36 Methyltransferase SETD2, ein weiteres Tumorsuppressorgen – auf drei verschiedene Weisen ausgeschaltet. Alle Metastasen hatten die gleiche „missense“-Mutation, eine Punktmutation, die zum Austausch einer Aminosäure führt und zur Folge hat, dass das entsprechende Protein nicht mehr funktionstüchtig ist. In einem Bereich des Primärtumors lag eine Spleißstellen-Mutation vor. Das ist eine genetische Mutation, die an der Stelle, an der das Spleißen zwischen Exon und Intron stattfindet, Nukleotide einfügt, entfernt oder ändert. Dadurch misslingt der wichtige Schritt bei der Verarbeitung der Vorläufer-mRNA in die reife mRNA. In diesem Fall kann nicht einmal eine funktionelle mRNA gebildet werden, geschweige denn ein funktionelles Protein. Und in allen anderen Bereichen des Tumors waren zwei Basenpaare des genetischen Codes verloren gegangen, so dass es zu einer Verschiebung des Leserasters im genetischen Code kam. Auch dies führte zu einem defekten Protein. SETD2 modifiziert normalerweise das Histon H3 am Lysin in Position 36 durch eine Methylierung. Um zu überprüfen, wie sich das Ausschalten des SETD2 Gens auf das Tumorgewebe auswirkt, färbten die Wissenschaftler mehrere Bereiche des Tumors mit Hilfe eines markierten Antikörpers an, der die durch SETD2 hervorgerufene Modifikation erkennt. Wie erwartet kam die durch SETD2 durchgeführte Modifikation in den Tumorzellen seltener vor, als im normalen Gewebe. Die von Swanton’s Team identifizierten Mutationen führten also tatsächlich zu einem veränderten Verhalten der Tumorzellen.

Eine Biopsie vermittelt nur einem Blick durch ein Schlüsselloch auf eine viel größere Landschaft

Diese Ergebnisse zeigen, dass eine einzelne Biopsie nur einen sehr eingeschränkten Eindruck von einem Tumor vermittelt, der in etwa einem Blick durch ein Schlüsselloch auf eine viel größere Landschaft gleicht. Durch diese Studie wird belegt, was viele Krebsforscher schon lange vermutet haben.

Konsequenzen for Tumordiagnose- und therapie

Die Vielfalt eines Tumors könnte erklären, warum es Wissenschaftlern bis heute so schwer fällt nützliche Biomarker für die klinische Anwendung zu finden. Diese vom Körper produzierten Substanzen sollen Ärzten Hinweise über vorhandene Tumore oder deren Eigenschaften liefern. Die Forschung an Biomarkern stützt sich meist auf nur eine einzelne Biopsie, was zu falschen Schlüssen führen kann. So fand Swanton’s Team in den verschiedenen Teilen eines Tumors genetische Signaturen (Muster), die sowohl auf eine gute, als auch auf eine schlechte Prognose schließen ließen.

Die Ergebnisse von Swanton’s Team könnten auch erklären, warum viele Therapien irgendwann nicht mehr wirken. Krebsmedikamente sind oft gegen Zellen mit bestimmten Mutationen gerichtet, die sich aber vielleicht nur in einem begrenzten Bereich des Tumors befinden. Oder die Zellen, gegen die das Medikament nicht wirkt, könnten als evolutionäres Reservoir dienen. So könnte der Tumor aus den Zellen, die durch das Medikament nicht abgetötet werden konnten, immer wieder von Neuem auswachsen. So wie der Hydra für einen abgeschlagenen Kopf immer wieder zwei neue nachwachsen. Das würde erklären, warum es für viele Patienten besser ist, wenn die Chirurgen den Primärtumor selbst dann noch entfernen, wenn der Tumor schon gestreut hat. Durch die Entfernung des evolutionären Reservoirs könnte sich die Prognose der Patienten verbessern, so Swanton. Dann hätte der Tumor weniger Material zur Verfügung, um sich an neue Umwelteinflüsse anzupassen.

Tumorheterogenität scheint ein bei vielen Krebsarten weit verbreitetes Phänomen zu sein

In den letzten zwei Jahren hat es mehrere Veröffentlichungen gegeben, die sich mit der evolutionären Entwicklung von Tumoren beschäftigen, berichtet Swanton in einem Editorial der Zeitschrift Annals of Oncology 2014. Ein solches Verhalten ist bisher für akute lymphatische Leukämie bei Kindern (ALL), Pankreaskrebs, Dickdarmkrebs, Nierenkrebs, Brustkrebs und Prostatakrebs belegt worden. Angesichts der weiten Verbreitung dieses Phänomens bei Krebs muss dringend die Bedeutung der Tumorheterogenität auf die Wirkung von Medikamenten, den Krankheitsverlauf und deren Kontrolle mit Hilfe von Biomarkern bestimmt werden. Krebsforscher müssen klären, ob es besser ist „Schlüsselmutation“ zu bekämpfen, die in allen Tumorzellen vorhanden sind oder solche, die nur in Teilbereichen des Tumors vorkommen.

Hoffungsschimmer: Der Tumorentwicklung sind enge Grenzen gesetzt

Aber es gibt auch Anlass zur Hoffnung. Wenn in einem Tumor das gleiche Gen oder der gleiche Signaltransduktionsweg auf unterschiedliche Weise ausgeschaltet wird, wiest dies auf eine gewisse Ordnung, bei der chaotisch wirkenden Tumorentwicklung, hin. Offensichtlich hat auch ein Tumor nur begrenzte genetische Möglichkeiten auf seinem Weg zur Entartung. Das könnte man für die Therapie ausnutzen. Dann könnte es gelingen den nächsten evolutionären Schritt eines Tumors vorhersagen: Möglicherweise werden Untergruppen von Tumorzellen durch Umwelteinflüsse dazu gezwungen, bestimmte evolutionäre Schritte zu durchlaufen. Wenn man diese Einflüsse kennt, könnte man Tumore dazu bringen, bei ihrer Entwicklung Wege einzuschlagen, die für die Patienten weniger riskant sind.

von Ute Keck

Gerlinger M. et al. 2012. N Engl J Med. Intratumor Heterogeneity and Branched Evolution Revealed by Multiregion Sequencing.

Swanton C. Ann Oncol. 2014. Cancer evolution: the final frontier of precision medicine?

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