Warum wir altes Wissen vergessen müssen, um Neues lernen zu können

Wo habe ich nur mein Fahrrad abgestellt? Haben wir solche Situationen nicht alle schon einmal erlebt? © Instinktknipser  / pixelio.de

Wo habe ich nur mein Fahrrad abgestellt? Haben wir solche Situationen nicht alle schon einmal erlebt?
© Instinktknipser / pixelio.de

Neu gebildete Nervenzellen könnten alte Erinnerungen verblassen lassen. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher, die untersuchten, wie sich eine massive Neubildung von Nervenzellen auf das Gedächtnis auswirkt. Die Studie könnte auch erklären, warum wir uns nur so schlecht an Erlebnisse in unserer frühesten Kindheit erinnern können.

Jeder kennt das Phänomen: Nach einem besonders ereignisreichen Tag kann man sich abends nicht mehr daran erinnern, wo man morgens sein Fahrrad oder Auto abgestellt hat. Oder können sie sich noch an Erfahrungen erinnern, die sie im Alter von zwei Jahren gemacht haben? Falls nein, dann wissen sie aber vielleicht noch, was Sie vor zwei Wochen zu Mittag gegessen haben? Schon lange haben nicht nur Wissenschaftler den Verdacht, dass sich unser Gehirn von alten Gedächtnisinhalten trennt, wenn es viele, neue Informationen speichern muss. Nun konnten Forscher an Mäusen, Meerschweinchen und Degus zeigen, dass dies tatsächlich der Fall ist.

Die genaue Bedeutung der Neurogenese, einer Neubildung von Nervenzellen, für das Gedächtnis ist immer noch umstritten. Aber in den letzten zehn Jahren konnte eindeutig gezeigt werden, dass Mäuse Neues besser lernen können, wenn ihre Neurogenese durch körperliche Bewegung oder Antidepressiva, wie Prozac, angeregt wird. Vor einigen Jahren aber machte der Neurowissenschaftler Paul Frankland vom Hospital for Sick Children in Toronto, Kanada, eine gegenteilige Beobachtung. Manche der Tiere in seinen Experimenten lernten schlechter, wenn ihre Neurogenese künstlich forciert wurde. Sie konnten sich an Details zurückliegender Ereignisse kaum noch erinnern. Diesen interessanten Aspekt konnte Frankland nicht ignorieren.

Schnitt durch das Gehirn. Der Gyrus dentatus liegt unten halblinks. © gemeinfrei.

Schnitt durch das Gehirn. Der Gyrus dentatus liegt unten halblinks.
© gemeinfrei.

In den meisten Bereichen des Gehirns hört die Neurogenese kurz nach der Geburt auf. Aber im Gyrus dentatus des Hippocampus kommt es auch nach der Geburt noch zu einer Neurogenese. Diese Gehirnregion ist für die Speicherung von Gedächtnisinhalten räumlicher Informationen und Ereignisse zuständig. Bei neugeborenen Menschen und Mäusen ist die Neurogenese im Gyrus dentatus sehr stark ausgeprägt und nimmt im Laufe des Lebens allmählich ab. Deshalb fragten sich Frankland und sein Team, ob das in frühester Jugend stattfindende, massive Nervenzellwachstum das Phänomen der Infantilen Amnesie erklären könnte. Darunter versteht man das Unvermögen von Erwachsenen, sich an früheste Kindheitserlebnisse, die vor dem dritten Lebensjahr liegen, zu erinnern.

Es ist schon viel darüber geforscht worden, wie Nervenzellen zur Bildung neuer Gedächtnisinhalte beitragen. Typischerweise kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass eine Hemmung der Neurogenese die Bildung neuer Erinnerungen behindert. Sowohl in künstlichen neuronalen Netzen, als auch bei solchen des Gehirns konkurrieren zwei verschiedene Bedürfnisse miteinander: Einerseits müssen die Schaltkreise plastisch genug sein, um neue Informationen aufnehmen zu können. Andererseits muss eine gewisse Stabilität gewährleistet sein, die sicher stellt, dass bei der Integration neuer Informationen keine alten verloren gehen. Die im Gyrus dentatus neu gebildeten Nervenzellen integrieren sich in die bestehenden Schaltkreise des Hippocampus. Dadurch tragen sie zur Bildung neuer Gedächtnisinhalte bei. Die Integration von neuen Nervenzellen könnte jedoch gleichzeitig alte Inhalte zerstören, die vorher schon in den Schaltkreisen gespeichert waren. Denn die neuen Nervenzellen konkurrieren mit den bereits vorhanden Zellen um Eingaben und Ausgaben in den Schaltkreisen. Sie bilden neue Verbindungen, die zusätzlich zu den alten dazu kommen oder diese sogar ersetzen können. Eine solche Umgestaltung verändert die Konfiguration dieser Schaltkreise und kann wahrscheinlich die Gewichtung von bereits existierenden Verbindungen modifizieren. Computermodelle von der Neurogenese des Hippucampus sagen vorher, dass diese mit dem Vergessen von Informationen einhergeht.

Das Forscherteam um Paul Frankland prüfte diese These nun in Tierversuchen. Die Forscher verglichen zuerst die Erinnerungsfähigkeit von erwachsenen, 60 Tage alten Mäusen mit der von jungen, 17 Tage alten Mäusen. Das Entwicklungsstadium der jungen Mäuse entsprach in etwa dem eines menschlichen Babys von unter einem Jahr. In einem Konditionierungsexperiment brachten sie den Mäusen bei, dass sie in einem Metallkasten schwache Elektroschocks zu erwarten hatten. Alle Mäuse lernten gleich schnell. Aber die jungen Mäuse merkten sich die negative Erfahrung, die sie gemacht hatten, nur für einen Tag und vergaßen sie danach wieder. Die alten Mäuse konnten sich dagegen auch sechs Wochen nach dem Experiment immer noch an ihre negative Erfahrung erinnern.

Der Unterschied in dem Erinnerungsvermögen der Mäuse korrelierte mit dem Ausmaß ihrer Neurogenese. Frankland und sein Team konnten das Erinnerungsvermögen von jungen Mäusen erhöhen, indem sie die Neurogenese nach dem Lernen hemmten. Das erreichten sie entweder durch eine genetische Manipulation oder durch die Gabe einer chemischen Substanz, wie Temozolomid. Beide Manipulationen verringerten die Neorogenese im Hippocampus der jungen Mäuse um 50%. Nach dieser Behandlung konnten sich die jungen Mäuse immerhin eine Woche nach der Konditionierung noch an ihre negative Erfahrung erinnern.

Die Erinnerung der erwachsenen Mäuse dagegen verblasste, wenn sie in einem Laufrad rennen durften. Mäuse laufen in solchen Laufrädern bis zu fünf Kilometern pro Nacht. Körperliche Bewegung kann die Neurogenese bei Mäusen um 50% steigern. Auch wenn die Wissenschaftler einer anderen Gruppe von erwachsenen Mäusen ein Medikament, wie Prozac, gaben, das die Bildung neuer Nervenzellen fördert, wurden die alten Mäuse so vergesslich, wie zuvor die jungen.

Ein Degus frisst ein Stück getrocknete Banane.  © Pierre Camateros. CC BY-SA 3.0

Degus sind Nestflüchter und kommen deshalb mit einem ausgereifteren Gehirn zur Welt, als Mäuse und Menschen, die Nesthocker sind. © Pierre Camateros. CC BY-SA 3.0

Sowohl Mäuse, als auch Menschen gehören zu den sogenannten Nesthockern, die in einem noch wenig ausgereiften Stadium geboren werden. Das Gehirn wächst bei ihnen anfangs noch sehr stark, was eine Ursache für die Infantile Amnesie sein könnte. Als Gegenprobe untersuchten Frankland und sein Team das Erinnerungsvermögen bei Meerschweinchen und Degus, die als typische Nestflüchter in einem Entwicklungsstadium geboren werden, in dem die Tiere und damit auch ihr Gehirn bereits weiter entwickelt sind. Baby-Degus und Meerschweinchen leiden nicht unter Infantiler Amnesie. Sie konnten sich nach dem Konditionierungsexperiment mit den Elektroschocks genauso gut an ihre alten Erfahrungen erinnern, wie die erwachsenen Mäuse. Wie bei den alten Mäusen, gelang es den Wissenschaftlern auch bei den jungen Degus und Meerschweinchen, die Tiere durch eine künstlich hervorgerufene Neurogenese dazu zu bringen, ihre vergangenen Erfahrungen zu vergessen. Dazu mussten sie ihnen nur Medikamente geben, die das Nervenwachstum fördern oder dafür sorgen, dass sie sich viel bewegten.

Psychologen gehen schon lange davon aus, dass der Schlüssel zu einem gesunden Geist im Vergessen liegt. Aber bisher haben Neurowissenschaftler diesem Aspekt keine besondere Bedeutung beigemessen. Frankland meint, wenn man davon überzeugt ist, Vergessen sei gesund, dann erscheint es auch sinnvoll, dass die Neurogenese dazu beiträgt alte Erinnerungen verschwinden zu lassen. Weiter spekuliert er, die Wirkung der, von ihnen in den Versuchen eingesetzten Antidepressiva könnte darauf beruhen, dass sie das Verschwinden oder Vergessen alter Erinnerungen fördern. Depressionen gehen mit einem verminderten Nervenwachstum einher.

Ob die beim Tier beobachteten Effekte auch beim Menschen auftreten wissen wir nicht, da es bisher keine Methode gibt, mit der man die Neurogenese beim lebenden Menschen messen kann. Aber es wäre naheliegend. Viele Leute haben die Erfahrung gemacht, dass Laufen ihren Kopf frei macht. Da könnte nach der Studie von Frankland und seinem Team tatsächlich etwas dran sein. Und das hat auch seinen Sinn, denn wer möchte sich schon daran erinnern, wo er sein Auto oder Fahrrad vor fünf Wochen abgestellt hat, dafür aber nicht mehr wissen, wo er es heute geparkt hat.

von Ute Keck

Video Animation der Publikation

 

K. G. Akers et al., “Hippocampal neurogenesis regulates forgetting during adulthood and infancy,” Science,
344:598-602, 2014.

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