Hirnforscherinnen und -forscher der ETH Zürich und weiterer Universitäten zeigen erstmals auf, dass autistische Personen eine Hirnregion für Empathie ungewöhnlich schwach aktivieren. Diese Erkenntnis könnte helfen, neue Therapien für Autismus-Betroffene zu entwickeln.
Forscherinnen und Forscher um ETH-Professorin Nicole Wenderoth und ihren Oberassistenten Joshua Balsters haben mithilfe von funktionalen MRI-Bildern (fMRI) bei autistischen Jugendlichen eine vom Regelfall abweichende Aktivität in einem bestimmten Hirnbereich, dem vorderen Cingulum, entdeckt.
Den Forschenden war bekannt, dass die Aktivität dieses Hirnteils mit der «theory of mind» gekoppelt ist. Diese ermöglicht es den meisten Menschen, sich in die Gedankenwelt eines Mitmenschen hineinzuversetzen. Auch Empathie, die Entsprechung der «theory of mind» in Bezug auf das emotionale Erleben, hat ihren Sitz in dieser Hirnregion.
Modell kann nicht aktualisiert werden
Die Forschenden konnten die ungewöhnlich schwache Nervenaktivität in diesem Hirnteil dann nachweisen, wenn die autistischen Probanden beobachteten, wie eine Drittperson entweder positiv oder negativ überrascht wurde. Bei Kontrollpersonen ohne Autismus zeigte die Nervenaktivität in solchen Situationen einen deutlichen Ausschlag.
«Menschen mögen keine Überraschungen», sagt Nicole Wenderoth, Professorin für Neuronale Bewegungskontrolle der ETH Zürich. «Deshalb bildet das Gehirn aufgrund von Umweltreizen laufend Modelle darüber, was in den Köpfen von anderen vorgeht.» Diese Fähigkeit sei im Umgang mit Mitmenschen enorm wichtig. «Menschen mit Autismus aber können in einem solchen Fall das Modell in ihrem Kopf nicht aktualisieren, weil der Aktivitätsausschlag im Cingulum zu schwach ist», sagt Wenderoth.
Spielen im MRI
Um in den Kopf ihrer Probanden – 16 autistische und 20 Jugendliche ohne Autismus – zu sehen, mussten sich diese in den MRI-Scanner legen. Während dieser Zeit beobachteten die Probanden ein Spiel, das sie zuvor selbst gespielt hatten.
In diesem Spiel mussten die Versuchspersonen erraten, hinter welcher von zwei Türen eine Belohnung wartet. Öffnete der Spieler die richtige Türe, wurde diese grün und der Spieler gewann kurze Zeit später einen Preis in Form eines Euros. Wählte er die falsche Tür, wurde diese rot. Dahinter verbarg sich eine Niete. Diese Regel galt während eines Grossteils des Spiels, aber manchmal – zu einem zufälligen Zeitpunkt – vertauschte der Computer die Farben: die rote Türe führte überraschenderweise zu einem Preis, die grüne Türe war die Niete. Nach jeder Spielrunde fragten die Studienleiter die Probanden, ob sie den Preis oder die Niete erwartet hätten.
Voraussage bereitet Schwierigkeiten
Dabei zeigte sich: Spielten autistische Probanden das Spiel selbst, hatten sie keine Probleme zu beantworten, ob der Preis oder die Niete überraschend oder erwartet war. Wenn sie aber eine andere Person bei dem Spiel beobachteten, hatten die autistischen Probanden viel grössere Probleme, das Resultat einer Spielrunde als Überraschung einzustufen als die nicht-autistischen Probanden.
Nach einem unerwarteten Spielresultat – die ausgewählte Türe wurde grün, und trotzdem war kein Preis dahinter –, war das vordere Cingulum bei nicht-autistischen Probanden der Kontrollgruppe deutlich aktiv. Bei den autistischen Jugendlichen hingegen war dieser Aktivitätsausschlag sehr schwach.
Soziales Defizit mit abnormaler Aktivität gekoppelt
«Unsere Studienresultate lassen vermuten, dass das vordere Cingulum bei Menschen mit Autismus untypisch auf die Abweichung zwischen Erwartung und dem wirklichen Geschehen reagiert. Die Nervenzellen von Autisten verändern ihre Aktivität nur wenig in Situationen, in denen Mitmenschen etwas Unerwartetes erleben», sagt Balsters, der das Experiment konzipierte und mit Probanden in Irland durchführte. «Damit ist uns klar geworden, dass das soziale Defizit bei Autismus-Betroffenen mit dieser abnormalen Aktivität im vorderen Cingulum zu tun haben muss», sagt er.
Die neuen Erkenntnisse könnten helfen, Verhaltenstherapien für Personen mit Autismus-Störungen zu verbessern, zum Beispiel Betroffenen beizubringen, wie sie sich verhalten können. «Oft ist nicht klar, ob autistische Personen nicht können oder ob sie nicht motiviert sind», sagt Balsters. Erfolgversprechend könne sein, den Betroffenen eine spezielle Belohnung anzubieten, um ihr Sozialverhalten zu trainieren. «Das Gehirn ist ausreichend plastisch, wenn wir die Therapie richtig durchführen», so der Forscher.
von Peter Rüegg, ETH Zürich, 3. April 2017
Originalpublikation:
Balsters JH, Apps MAJ, Bolis D, Lehner R, Gallagher L, Wenderoth N. Disrupted prediction errors index social deficits in autism spectrum disorder. Brain 2017: 140; 235-246. DOI: 10.1093/brain/aww287