Zugvögel besitzen einen inneren Kompass, mit dem sie sich am Erdmagnetfeld orientieren. Welche Biomoleküle den Tieren zu dieser Sinneswahrnehmung verhelfen ist noch nicht bekannt. Aber wie aus Experimenten bekannt ist müssen diese Moleküle erst durch Licht, das ins Vogelauge fällt, aktiviert werden bevor sie für das Magnetfeld empfindlich werden. Vermutlich nutzt dieser Kompass ähnlich raffinierte Quanteneffekte wie Pflanzen sie bei der Photosynthese einsetzen. Was Forschern bisher kopfzerbrechen bereitete ist die Tatsache, dass solche Quantenzustände gegen Störungen aus ihrer Umgebung hoch empfindlich reagieren. Man nahm daher an, sie seien für solche biologischen Funktionen viel zu kurzlebig. Doch wie ein Forscher nun beweisen konnte ist dieses Problem ist mit Hilfe der Quantenmechanik lösbar.
Jedes Jahr ziehen Küstenseeschwalben mehr als 40.000 Kilometer weit. Das entspricht umgerechnet einer Strecke von mehr als einer Erdumrundung. Auf der gewaltigen Reise zwischen ihren arktischen Brut- und antarktischen Überwinterungsgebieten orientieren sie sich am Erdmagnetfeld. Dabei steht die „Bio-Hochtechnologie“, die alle Zugvögel einsetzen, offenbar menschlicher Technologie in nichts nach. Vermutlich nutzen die Tiere dafür sogar subtile Quanteneffekte.
„Zugvögel sind unglaublich faszinierend“, schwärmt Zacharias Walters. Der junge Amerikaner ist nicht etwa Biologe, sondern Physiker. Die gefiederten Weltreisenden gehören nicht gerade zu den klassischen Forschungsobjekten der Physik. Auf die Biologie kam Walters als Postdoktorand am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden. Dort forschte er an einer Art biologischem „Quantenverstärker“, den Pflanzen für die Photosynthese nutzen. Bis dahin hatte es kaum ein Wissenschaftler für möglich gehalten welche ausgefeilte Quantentechnologie Pflanzen einsetzen, um aus Licht Energie zu gewinnen.
Messkurven gaben Hinweise auf Quanteneffekte im Vogelkompass
Während seiner Forschungsarbeit stieß Walters zufällig auf Arbeiten über den Magnetkompass von Vögeln. Das brachte den Physiker auf die Idee, diese Tiere könnten ebenfalls Quanteneffekte nutzen. „Beim Anblick der Messkurven in den Publikationen dachte ich sofort, meine Güte, das hier ist eine Resonanzkurve und das da eine Photo-Aktivierungsenergie“, erzählt Walters, „und das bei lebenden Tieren!“ Die vertrauten Kurvenformen überzeugten ihn davon, er als Physiker könne etwas wesentliches zur Erforschung des Magnetkompasses von Vögeln beitragen. „Als ich mein Vorhaben meinem Chef, dem Nachwuchsgruppenleiter Jan Brugues, mitteilte“, erzählt Walters, „stimmte dieser begeistert zu.“
Zugvögel nutzen vermutlich mehrere verschiedene Informationsquellen gleichzeitig, um zuverlässig navigieren zu können. Diskutiert wird etwa eine Orientierung am Sonnenstand oder an nächtlichen Sternenbildern. Dass Vögel tatsächlich einen inneren Kompass zur Wahrnehmung des Erdmagnetfeldes besitzen, gilt seit 1966 als erwiesen. Damals setzte der junge Zoologe Wolfgang Wiltschko an der Universität Frankfurt zugunruhige Rotkehlchen in abgeschirmte Käfige. Er setzte die Tiere künstlichen Magnetfeldern aus, die er in verschiedene Richtungen drehte. Die getäuschten Vögel orientierten sich bei den Versuchen immer in die vermeintliche Zugrichtung. Zusammen mit seiner Frau Roswitha erforscht Wiltschko bis heute diesen Magnetkompass. Das Pionierpaar begründete damit ein faszinierendes Forschungsgebiet.
Seit 1966 haben sich die gefiederten Labormitarbeiter viele Geheimnisse über ihre Navigationsfähigkeiten entlocken lassen. Allerdings gelang es bis heute nicht, Sinneszellen zu identifizieren, aus denen der von Wiltschko entdeckte Kompass aufgebaut ist. Doch wie dieser Kompass funktioniert, ist inzwischen über Verhaltensexperimente sehr genau erforscht.
Der Magnetsinn muss durch Licht mit ausreichender Energie aktiviert werden
Der Magnetsinn befindet sich im Vogelauge und braucht Licht, um funktionieren zu können. In der Anwesenheit von Licht des blauen bis grünen Spektrums können die Vögel zuverlässig Magnetfelder erkennen, verlieren aber diesen Orientierungssinn im gelbroten Licht. Gelbes bis rotes Licht ist langwelliger und seine Quanten haben daher weniger Energie. Anscheinend reicht diese Energie nicht aus, um den Kompass der Vögel über den notwendigen Quantensprung einzuschalten.
Ausgefeilte Experimente ergaben, dass Vögel über einen lichtabhängigen Inklinationskompass verfügen. Damit können sie die Inklination wahrnehmen, den Neigungswinkel der Linien des Erdmagnetfeldes gegenüber der Erdoberfläche. Das Erdmagnetfeld verläuft ungefähr längs der Rotationsachse der Erde. Wobei die Linien des Magnetfeldes die Erde im Süden verlassen, sie umspannen und im Norden wieder in sie eintreten. So kommt es, dass sie am Äquator parallel zur Erdoberfläche verlaufen und an den Polen senkrecht in den Boden weisen. Ein Inklinationskompass liefert Informationen über den Verlauf der Magnetfeldlinien entlang der Nord-Süd-Achse und deren Neigungswinkel im Verhältnis zur Schwerkraft. Damit liefert der Kompass den Vögeln eine Information über den Breitengrad, an dem er sich befinden. Auf beiden Erdhalbkugeln weist die Öffnung des Inklinationswinkels immer in Richtung des am nächsten liegenden Pols, während seine Spitze zum Äquator zeigt. Deshalb funktioniert der Inklinationskompass auf beiden Erdhalbkugeln gleich gut. Möglicherweise können die Vögel sogar Norden und Süden direkt als Fleck im Blickfeld wahrnehmen.
In den letzten 30 Jahren entwickelten Forscher verschiedene Modelle von den potentiellen Magnetrezeptoren, die die geringe Feldstärken des Erdmagnetfeldes, von ca. 50 Mikrotesla, wahrnehmen könnten. Mit dem so genannten Radikal-Paar-Mechanismus lassen sich die Eigenschaften des magnetischen Inklinationskompasses bisher am besten erklären. Die Idee für dieses Modell entwickelte bereits in den 1970er Jahren der Biophysiker Klaus Schulten. Aber erst ein viertel Jahrhundert später leitete Thorsten Ritz, ein Doktorand von Schulten, daraus konkrete Vorstellungen über die Eigenschaften der Rezeptormoleküle und deren Lokalisierung ab. Nach diesem Modell besteht der Magnetrezeptor aus einem Molekülpaar, das durch Lichtstrahlen aktiviert werden kann. Durch Übertragung eines Elektrons bildet sich dann ein sogenanntes Radikal-Paar. Dieses Radikal-Paar, dessen Lebenszeit nur wenige 1000stel Sekunden beträgt, pendelt ständig zwischen zwei möglichen quantenmechanischen Zuständen hin und her. Je nach dem, in welchem Zustand es sich befindet, bilden sich beim Zerfall des Radikal-Paares Moleküle mit unterschiedlichen chemischen Eigenschaften. Und hier nun kommt das Erdmagnetfeld ins Spiel: In Abhängigkeit von dem Winkel, in dem die Magnetfeldlinien auf das Radikal-Paar treffen, verschiebt sich das Gleichgewicht des Radikal-Paares zu Gunsten des einen oder anderen Zustandes – was wiederum die Zusammensetzung der gebildeten chemischen Endprodukte bestimmt. Auf diese Weise könnte die physikalische Information über die Neigung der Magnetfeldlinien in chemische Signale übersetzt werden. So könnte eine Sinneswahrnehmung des Erdmagnetfeldes entstehen.
Damit der Magnetkompass richtig funktioniert, müssen die Magnetrezeptoren räumlich so angeordnet sein, dass sie dem Vogel eine eindeutige Information über den Neigungswinkel der Magnetfeldlinien liefern können. Thorsten Ritz und seine Kollegen nehmen deshalb an, dass sich die Sensoren in der Netzhaut der Vogelaugen befinden: Dort wäre nicht nur genügend Licht für die Aktivierung der Radikal-Paare vorhanden, sondern auf der kugelförmigen Netzhaut könnten die Rezeptoren in regelmäßigen Abständen so angeordnet sein, wie die Noppen auf einem Igelball. Bei dieser Anordnung wären immer nur wenige Rezeptoren genau in Richtung der Magnetfeldlinien ausgerichtet. Die sie umgebenden Rezeptoren würden mit zunehmendem Abstand immer stärker davon abweichen. Auf diese Weise könnte der Vogel die Neigung der Magnetfeldlinien als graduelles Muster wahrnehmen, das dem normalen Sehen überlagert ist.
Die Quantenzustände müssen sehr langlebig sein
Das Ritzsche Modell kann die Verhaltensexperimente sehr gut erklären. Allerdings warf es bisher ein gravierendes Problem auf:. Die Quantenphysik forderte, dass die beteiligten Quantenzustände unglaublich langlebig ein sollten: Sie sollten mindestens drei Millisekunden (Tausendstel Sekunden) lang sein, wie Experimente mit schwingenden Magnetfeldern ergaben. „Für die Quantenmechanik ist das eine Ewigkeit, und das ist das eigentlich Erstaunliche für einen Physiker wie mich“, sagt Walters.
So lange Lebensdauern im Millisekundenbereich sind bei dieser Art von Quantenzuständen eigentlich nur dann erreichbar, wenn sie perfekt von Störungen abgeschirmt sind. Die „Kompass“-Moleküle sind jedoch in ihrer biologischen Umgebung andauernd Ruhestörungen ausgesetzt. Die vielen sie umgebenden Moleküle rütteln ständig mit verschiedenen Kräften an ihnen, darunter auch mit magnetischen. „Deshalb sollten die Quantenzustände eigentlich viele Millionen mal schneller zerfallen, als sie dies offensichtlich tun“, erklärt Walters.
Der Physiker hat nun jedoch theoretisch gezeigt, wie das Ritzsche Modell des Kompasses dennoch funktionieren kann. Hierfür bietet die Quantenmechanik einen raffinierten Ausweg. Sie erlaubt „Betriebszustände“, die für eine „dynamische“ Stabilität der empfindlichen Quantenzustände sorgen. Diese machen das Quantensystem gegenüber permanent auftretenden Störungen überraschend unempfindlich. „Man kann sich das ein bisschen wie einen Autostoßdämpfer vorstellen, den man so hart einstellt, dass er auf viele kleine Holprigkeiten gar nicht mehr reagiert “, erklärt Walters.
Auch wenn damit immer noch nicht geklärt ist, welche Moleküle als Magnetsensoren dienen: Walters Arbeit zeigt, dass Quanteneffekte, die das Erdmagnetfeld sehr genau erfassen können, im Prinzip langlebig genug sind, um diese Aufgabe zu erfüllen. Bei genauerer Betrachtung erscheint die Nutzung der Quantentechnologie durch die Zugvögel nicht mehr so ungewöhnlich, denn warum sollte die Nutzung dieser Technologie nur auf nur Pflanzen beschränkt sein?
Max-Planck-Gesellschaft, 20 Oktober 2014
Zachary B. Walters. Quantum Dynamics of the Avian Compass. Physical Review E, 13. Oktober 2014; DOI: 10.1103/PhysRevE.90.042710