Singvögel sind Minimalisten, wenn es um das Erlernen eines neuen Gesangs geht. Dies konnten Wissenschaftler der ETH Zürich und der Universität Zürich zeigen. Die Lernmethode der Vögel ähnelt einer Strategie, die Computerwissenschaftler beim Sprachvergleich anwenden.
Wie das Sprachenlernen für Kleinkinder ist es auch für Singvögel eine Herausforderung, einen neuen Gesang zu lernen. Zebrafinken gehen dabei Schritt für Schritt vor und nehmen auch mal einen Umweg in Kauf: Sie verändern bereits bekannte Gesangssilben und passen sie den neu zu lernenden Silben an. Während dieser Lernphase gerät die Silbenabfolge oft durcheinander. In einer nächsten Lernphase setzen die Vögel die neuerlernten Silben dann in die richtige Reihenfolge. Dies berichten Forschende der Gruppe von Richard Hahnloser, Professor am Institut für Neuroinformatik von der ETH und der Universität Zürich, in der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Communications.
«Die Zebrafinken haben eine Strategie entwickelt, eine solch komplexe Aufgabe wie das Erlernen eines neuen Gesangs in leichter zu bewältigende Teilaufgaben aufzuteilen», sagt Hahnloser. «Dadurch können sie ihr Repertoire mit minimalem Aufwand erweitern.»
Die Wissenschaftler gewannen diese Erkenntnisse aus einem Experiment mit Jungvögeln, die bei Versuchsbeginn einen Monat alt waren. Die Forschenden spielten den Vögeln regelmässig einen Gesang vor, den diese dabei erlernten. Nach einem Monat änderten die Forschenden den Gesang, und die Vögel versuchten, ihren Gesang an den neuen anzupassen. «In der Natur passen Vögel ihren Gesang instinktiv an denjenigen von erwachsenen Artgenossen an», erklärt Hahnloser. Die Forschenden zeichneten rund um die Uhr jede Lautäusserung der Vögel auf und werteten sie Silbe für Silbe am Computer aus.
Hörbeispiele
Die Buchstaben stehen für unterschiedliche Silben (in einer bestimmten Tonhöhe), + und – für eine Veränderung um einen Halbton nach oben bzw. unten, ++ um einen Ganzton nach oben.
Vogel, der den Gesang ABC (MP3, 95 KB) beherrscht, bei der Aufgabe, den Gesang AC++B (MP3, 42 KB) zu lernen. In einem ersten Schritt ändert der Vogel die Tonhöhe der Silbe C und singt ABC++ (MP3, 76 KB). Erst in einem zweiten Schritt bringt der Vogel die Silben in die richtige Reihenfolge AC++B (MP3, 46 KB).
Vogel, der zunächst den Gesang ABCB+ (MP3, 38 KB) lernte, bei der schwierigen Aufgabe, einen zweiten Gesang AB++CB- (MP3, 40 KB) zu lernen. Er muss dazu die Silbe B einmal um einen ganzen Ton höher und einmal um einen ganzen Ton tiefer singen. Beim Lernen macht der Vogel den Umweg über den Gesang AB-CB++ (MP3, 52 KB). Das heisst, er ändert zunächst die Silben um einen Halbton (zwei kleine Änderungen). Bei dieser Aufgabe schaffte es keiner der beobachteten Vögel, anschliessend die Silben in die richtige Reihenfolge zu bringen, denn die Vögel wurden während des Experiments erwachsen. Im Erwachsenenalter ändern Vögel ihren Gesang nicht mehr.
Computerlinguistik mit ähnlicher Methode
«Die Strategie der Vögel ähnelt interessanterweise sehr der zurzeit besten Computerlinguistik-Methode zum Vergleich von Schriftstücken», sagt Hahnloser. Diese Algorithmen vergleichen Schriftdokumente, indem sie deren Wörter zwar in ihrem Kontext, aber ungeachtet ihrer genauen Reihenfolge betrachten. Durch den Vergleich von Milliarden von Texten können diese Algorithmen die Ähnlichkeit zweier Wörter bestimmen und mit einer Zahl bewerten. So finden sie zum Beispiel heraus, dass die beiden Wörter Haus und Gebäude die praktisch gleiche Bedeutung haben.
Auch können diese Computerprogramme aus Millionen von Dokumenten dasjenige finden, das einem bestimmten Text am ähnlichsten ist. Es ist jenes, dessen Vokabular sich mit dem geringsten Aufwand in das Vokabular des Vergleichstexts verändern lässt. «Diese heute von Computerwissenschaftlern verwendete Strategie lernten Singvögel in ihrer Evolution, und sie wandten sie wohl schon vor Millionen von Jahren an», sagt Hahnloser.
Hypothesen für Studien beim Menschen
Ob Kleinkinder beim Erlernen ihrer Muttersprache oder einer Fremdsprache ähnlich vorgehen wie die Singvögel, ist ungewiss. Zwischen dem menschlichen Spracherwerb und dem Gesangserwerb von Vögeln gebe es jedoch Gemeinsamkeiten, sagt Hahnloser. Auch liessen sich aus der Singvogelforschung schon spannende Hypothesen zur Sprachentwicklung von Kleinkindern ableiten. Frühere Studien zeigten beispielsweise, dass Jungvögel und Kleinkinder jede einzelne Silbe ausgiebig durch Verdoppeln üben (bei Kindern beispielweise: «Baba», «Dodo»), und dies mit neu dazugelernten Silben auch dann noch machen, wenn sie bereits Gesangselemente und Wörter mit zwei unterschiedlichen Silben (bei Kindern beispielsweise: «Auto») beherrschen.
Mit Hahnlosers jüngsten Forschungsergebnissen bei Singvögeln liesse sich die Hypothese aufstellen, dass auch Kleinkinder beim Erlernen einer Fremdsprache minimalistisch vorgehen, dass sie neue Laute (zum Beispiel im Französischen die Nasalvokale oder das gerollte R) erlernen, indem sie bekannte Laute abändern, zunächst ohne darauf zu achten, in welchem Kontext diese Laute in der Fremdsprache vorkommen. Ob dem tatsächlich so ist, muss allerdings erst noch untersucht werden.
von Fabio Bergamin, ETH Zürich, 1. November 2017
Originalpublikation:
Lipkind D, Zai AT, Hanuschkin A, Marcus GF, Tchernichovski O, Hahnloser RHR: Songbrids work around computational complexity by learning song vocabulary independently of sequence. Nature Communications, 1. November 2017, doi: 10.1038/s41467-017-01436-0