Hochkulturen brachten mächtige, moralisierende Götter hervor

Christen stellen sich Gott als Vater vor, der sich liebevoll um das Wohl der Welt sorgt. Er gilt als allmächtig, allwissend und allgegenwärtig. © CC0 1.0.

Als die Menschen noch in kleinen Gruppen lebten, kannte jeder jeden und konnte ihn zur Rede stellen, wenn er die sozialen Strukturen der Gesellschaft ausnutzte. Doch in der Lauf der Geschichte organisierten sich die Menschen zu immer größeren Gruppen, die schließlich in multiethnischen Hochkulturen gipfelten. Damit Kulturen funktionieren, müssen sich alle Mitglieder einer Gesellschaften gegenseitig respektieren und miteinander kooperieren. Bis zu einer gewissen Größe kann die Vorstellung von moralisierenden Ahnen diese bewirken. Überschreitet die Bevölkerung jedoch die Millionenmarke, so treten mächtige, moralisierende Götter auf, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft gewährleisten. So lautet die These von Ara Norenzayan. Doch was kam zuerst, die großen Götter oder die komplexe, multiethinische Gesellschaft?

Um zu überleben, müssen Menschen miteinander kooperieren. Das beginnt schon bei der Betreuung der Kinder, sind sie doch beim Menschen extrem hilflos und müssen über Jahre hinweg versorgt werden. Das funktioniert am Besten in kleinen Gruppen. Dort kennt jeder jeden und weiß was er tut. So kann die Gemeinschaft diejenigen ermahnen, die versuchen das soziale Netzwerk auszunutzen. Doch je komplexer eine Gesellschaft wird, desto anonymer wird sie. Oft kennen sich die Menschen, die miteinander kooperieren nicht und müssen doch darauf vertrauen können, dass ihr gegenüber sie nicht betrügt. Ara Norenzayan vertritt die These, dass sich Menschen nur dann anständig verhalten, wenn sie glauben, beobachtet zu werden. Da in einer komplexen Gesellschaft auch völlig fremde fair miteinander kooperieren müssen, brachten die Hochkulturen eine kreative Lösung für dieses Problem hervor: Übernatürliche Wesen, die alles sehen und wissen, die bemerken, wenn jemand Unrecht tut und ihn dafür bestrafen, sei es in diesem Leben oder im Leben nach dem Tod.

Auge des Sonnengottes Ra. © Polyester,fi:Käyttäjä:kompak. CC BY-SA 3.0. Wikimedia Commons.

Im alten Ägypten stand Maat für ein Konzept das Gerechtigkeit, Weltordnung, Wahrheit, Staatsführung und Recht umfasste. Verkörpert wurde dieses Prinzip durch die gleichnamige ägyptische Göttin. Sie galt als die Tochter des Sonnengottes Ra und wachte in Form von Tefnut als Auge des Ra über die Moral der Menschen. Beim ägyptischen Totengericht wurde das Herz des Verstorbenen gegen die Feder von Maat gewogen. Nur wer diesen Test bestand konnte in das himmlische Totenreich übertreten.

Der ägyptische Gott Anubis wiegt das Herz eines Verstorbenen gegen die Feder von Maat, die für Wahrheit, Gerechtigkeit und die Weltordnung steht. Rechts lauert das Monster Ammut, dass die Seele des Verstorbenen verschlingen wird, wenn sie für unwürdig erachtet wird. Während der Gott Toth das Urteil aufschreibt. © Open source, Wikimedia Commons.

Schamasch. © Katolophyromai. CC0 1.0. Wikimedia Commons.

Die Mesopotamier glaubten, der Sonnengott Schamasch, herrsche über die gesamte Welt. Jeden Tag bestieg er den Himmel, den er je nach Darstellung auf dem Rücken eines Pferdes, in einem Boot oder in einem Streitwagen durchquerte. Seine Lichtstrahlen gelangten überallhin, so dass er Licht in Trug und Unrecht brachte. Ihm blieb kein Geheimnis und keine Missetat verborgen. Am Abend trat er wieder in die Erde ein und durchquerte die Unterwelt, wo er nun ebenfalls für Gerechtigkeit unter den Verstorbenen und den Anunnaki Göttern sorgte. Er wird oft auf einem Thron sitzend dargestellt. In seinen Händen hält er die Symbole der Gerechtigkeit: einen Messstab und einen Ring.

Marduk und Mušḫuššu – Zeichnung nach einem babylonischen Rollsiegel. © public domain.

König Ur-Engur aus der sumerischen Stadt Ur (c.a. 2600 v. Chr.) ließ auf eine Tontafel schreiben, er habe seine Entscheidungen gemäß den gerechten Gesetzen von Schamasch getroffen. Und Hammurabi erklärt, zu seiner berühmten Sammlung von Gesetzestexten sei er von Schamasch inspiriert worden. So verkündet er denn auf der Stele mit den Gesetzestexten:

Auf Befehl von Schamasch, dem großen Richter von Himmel und Erde, möge sich Gerechtigkeit im Land ausbreiten. Auf Befehl Marduks, meinem Herren, möge mein Monument nicht zerstört werden.

Der oberste babylonische Gott Marduk vereinte die Eigenschaften anderer Götter auf sich. Auf diese Weise erhielt er 50 Namen. Unter anderem wurde ihm auch die Fähigkeit zugeschrieben, alles zu sehen, was die Menschen tun und Sünder, sowie Gesetzesbrecher zu bestrafen.

Als Kaiser Konstantin führte 324 n. Chr. das Christentum im römischen Reich einführte, bestand dieses bereits über Jahrhunderte hinweg. Doch nach der Einführung durch Augustus war das Kaisertum, im ursprünglich demokratischen Rom, stets hinterfragt und angefochten worden. Der christliche Monotheismus bot nun eine optimale Legitimation für die Alleinherrschaft des Kaisers. Sollte doch ihm zufolge, so wie im Himmel nur ein Gott herrschte, auch auf Erden nur einer alleine herrschen.

Ein internationales Team von Forschern stelle sich die Frage, was sich in der evolutionären Entwicklung menschlicher Gesellschaften zuerst entwickelt hat, die Komplexität oder mächtige, moralisierende Götter. Bisher war bekannt, dass die Komplexität einer Gesellschaft mit dem Glauben an mächtige, moralisierende Gottheiten einher geht. Doch eine simple Korrelation sagt nichts darüber aus, was von beiden zuerst kam. Um diese Frage zu klären analysierte das Forscherteam die Daten der Seshat-Datenbank. Ihre Daten erlauben es, zu untersuchen, wie sich die verschiedenen Gesellschaften auf der ganzen Welt im Verlaufe der Zeit verändert haben. Die Analyse der Forscher umfasst 414 Gesellschaften und deckt die die letzten 10.000 Jahre ab. Sie beginnt also im neolithischen Anatolien, wo sich die Menschen zum ersten Mal gemeinsam in größeren Städten niederließen. Die Studie umfasst insgesamt 30 Regionen der Welt. Dabei berücksichtigten die Forscher 51 Indikatoren, die Auskunft über die Komplexität der Gesellschaft gaben, sowie 4 Merkmale die verrieten, ob es in den Gesellschaften eine Vorstellung von übernatürlichen Wesen gab, die über das moralische Verhalten der Menschen wachen. Als Schwellenwert zum Übergang in eine große Gesellschaft wurde eine Million Mitglieder und mehr definiert.

Auch die Daten der Seshat-Datenbank lassen klar einen Zusammenhang zwischen zahlenmäßig großen Gesellschaften und dem Auftreten mächtiger, moralisierender Götter erkennen. In der Hälfte der Fälle treten diese beiden kulturellen Errungenschaften mehr oder weniger gleichzeitig auf. In einem Zeitfenster von etwa 100 Jahren. Meist betreten die mächtigen moralisierenden Götter erst einige Zeit, nachdem sich eine Hochkultur herausgebildet hat, die gesellschaftliche Bühne. In manchen Fällen kann das sogar hunderte oder tausende von Jahren später sein. Doch nie war diese Art von Göttern präsent, bevor sich eine komplexe Gesellschaft entwickelte.

Der persische König Dareios führte im 6. Jahrhundert v. Chr., also erst Jahrzehnte nach den persischen Eroberungen Mesopotamiens und Ägyptens den monotheistischen Zoroastrismus als persische Religion ein, die hohe moralische Ansprüche an seine Anhänger stellt. Gleiches gilt für das Reich der Maurya in Indien. Es war bereits sehr groß und mächtig, als König Ashoka nach seiner brutalen Eroberung des Königreiches Kalinga den Buddhismus im 3. Jahrhundert v. Chr. als Staatsreligion verbreiten ließ.

Mächtige moralisierende Götter scheinen eine positive Wirkung auf große, komplexe Gesellschaften zu haben. Die Vorstellung einer übernatürlichen Bestrafung ist demnach ein Faktor unter anderen, der Hochkulturen stabilisiert. Weitere Faktoren, die komplexe Gesellschaften stabilisieren sind Rechtssysteme, die Ungleichheit abbauen können, gemeinsame Weltbilder, die in einer multiethnischen Gesellschaft identitätsstiftend wirken können. Diese gemeinsamen Weltbilder können durch eine Weltreligion gestiftet werden. Wichtige weitere Faktoren sind unter anderem eine funktionierende Verwaltung.

Komplexe Hochkulturen sind bei ihrer Entstehung meist äußerst labil und müssen durch zahlreiche Faktoren abgestützt werden, damit sie nicht durch innere Spannungen oder von außen auf sie einwirkende Kräfte wieder zu Fall gebracht werden. Hochkulturen, denen es nicht gelingt, genügend stabilisierende Komponenten zu entwickeln, vergehen wieder und werden durch solche ersetzt, die bessere, stabilisierende Faktoren hervorbringen. Einer dieser Faktoren sind offenbar mächtige, moralisierende Götter.

von Ute Keck, 28. März 2019

Originalpublikation:

Harvey Whitehouse, Pieter François, Patrick E. Savage, Thomas E. Currie, Kevin C. Feeney, Enrico Cioni, Rosalind Purcell, Robert M. Ross, Jennifer Larson, John Baines, Barend ter Haar, Alan Covey & Peter Turchin. Complex societies precede moralizing gods throughout world history. Nature (2019).

Weitere Quellen:

Complex societies not driven by “Big Gods” of Christianity or Islam

Do “Big Societies” Need “Big Gods”?

The Bible Unearthed – Wikipedia

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