Flimmerhärchen im Gehirn erzeugen zeitlich wechselnde Strömungen

Strömungskarte im dritten Ventrikel des Maushirns mit den Strömen entlang der Ventrikelwand (farbige Linien) und den Hauptstromrichtungen (weiße Pfeile) in einzelnen Bereichen. Die verschiedenen Farbbereiche auf den Bildern zeigen, dass Flimmerhärchen sich je nach Ort in sehr unterschiedliche Richtungen bewegen und so ein „Straßensystem“ bilden. © MPI f. biophysikalische Chemie/ R. Faubel, H. Sebesse

Strömungskarte im dritten Ventrikel des Maushirns mit den Strömen entlang der Ventrikelwand (farbige Linien) und den Hauptstromrichtungen (weiße Pfeile) in einzelnen Bereichen. Die verschiedenen Farbbereiche auf den Bildern zeigen, dass Flimmerhärchen sich je nach Ort in sehr unterschiedliche Richtungen bewegen und so ein „Straßensystem“ bilden.
© MPI f. biophysikalische Chemie/ R. Faubel, H. Sebesse

Wenn wir uns den Kopf anstoßen, sind die Folgen meist harmlos. Das liegt an den mit Flüssigkeit gefüllten Hirnkammern in unserem Gehirn. Sie fangen Stöße oder Erschütterungen ab und schützen so empfindliche Teile unseres Nervensystems. Doch die Bedeutung des Hirnwassers geht weit über diese Schutzfunktion hinaus: Es entfernt zellulären Müll, versorgt unser Nervengewebe mit Nährstoffen und transportiert wichtige Botenstoffe. Doch auf welchem Weg diese Botenstoffe im Gehirn ihr Ziel erreichen, war bisher ungeklärt. Wie Forscher jetzt herausgefunden haben, könnten ihnen winzige Flimmerhärchen auf der Oberfläche spezialisierter Zellen den Weg weisen. Durch ihre synchronisierten Schlagbewegungen erzeugen sie ein komplexes Netzwerk dynamischer Ströme, die wie Förderbänder wirken, auf denen sie ihre molekulare „Fracht“ transportieren. Diese Ströme könnten Botenstoffe gezielt an ihre Wirkorte im Gehirn weiterleiten.

Millionen von Flimmerhärchen auf der Oberfläche spezialisierter Zellen im Inneren unseres Körpers machen diesen buchstäblich zu einer haarigen Angelegenheit. Flimmerhärchen befreien unsere Atemwege von Staub, Schleim und Krankheitserregern; transportieren Eizellen durch den Eileiter, und lassen Spermien ihr Ziel erreichen. Auch die vier Hirnkammern in unserem Gehirn – die sogenannten Ventrikel – werden von einer Schicht hoch spezialisierter Zellen ausgekleidet, die auf ihrer Oberfläche mit Bündeln von Flimmerhärchen besetzt sind. Zwar ist jedes einzelne von ihnen nur wenige tausendstel Millimeter groß. Doch wenn Hunderte von ihnen im Gleichklang schlagen, können diese Härchen kräftige Ströme erzeugen.

Gregor Eichele und Regina Faubel vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie ist es gemeinsam mit Eberhard Bodenschatz und Christian Westendorf vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation jetzt gelungen, das komplexe Netzwerk dieser Ströme in isoliertem Hirnkammergewebe sichtbar zu machen. Für ihre Untersuchungen konzentrierten sich die Göttinger Forscher auf die dritte Hirnkammer, die in den Hypothalamus eingebettet ist. „Der Hypothalamus ist eine sehr wichtige Schaltzentrale. Er steuert beispielsweise Kreislauf und Körpertemperatur, aber auch Sexualverhalten, Nahrungsaufnahme und Hormonhaushalt. Es gibt daher einen umfangreichen Transport von Botenstoffen über das Hirnwasser vom und zum Hypothalamus“, erklärt Gregor Eichele, Leiter der Abteilung Gene und Verhalten am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie.

Bewegung der Flimmerhärchen sichtbar gemacht

Die Flüssigkeitsbewegung lässt sich unter einem Mikroskop nicht direkt beobachten. Um diese sichtbar zu machen, entwickelte Regina Faubel, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Eicheles Abteilung, einen neuen experimentellen Ansatz mit isoliertem Hirnkammergewebe aus der Maus. In der Kulturschale injizierte sie dem Nervengewebe winzige fluoreszierende Kügelchen, die daraufhin als Leuchtmarker mit dem Nährmedium mitschwammen. Nachfolgend erfasste die Forscherin den Weg eines jeden Kügelchens innerhalb des Nervengewebes unter dem Mikroskop. Mithilfe eines von ihrem Kollegen Christian Westendorf eigens dafür entwickelten Computerprogramms setzten die Forscher die umfangreichen Daten dann zu einem Geamtbild zusammen.

„Wir sehen auf diesen Bildern ein komplexes Netz von ‚Flüssigkeitsstraßen’ entlang der Innenseite der Hirnkammer. Doch anders als das Blut, das durch unsere Blutgefäße fließt, sind diese Straßen nicht durch Wandungen begrenzt. Die spannende Frage für uns war daher: Wird das Strömungsmuster allein durch das synchronisierte Schlagen der Flimmerhärchen erzeugt?“, berichtet Regina Faubel, Erstautorin der Studie. Im nächsten Schritt filmten die Forscher die Flimmerhärchen als sie in Aktion waren und bestimmten deren Schlagrichtung sowie die sich daraus ergebende Strömung. „Unsere Experimente haben gezeigt, dass die Ströme tatsächlich allein durch die Bewegungen der Härchen erzeugt werden. Diese funktionieren wie Förderbänder und wären damit durchaus in der Lage, Botenstoffe an den richtigen Ort im Gehirn zu transportieren“, so Eberhard Bodenschatz, Leiter der Abteilung Hydrodynamik, Strukturbildung und Biokomplexität am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. „Auch könnten die Ströme dazu beitragen, Substanzen lokal zu begrenzen, indem die gegeneinander verlaufenden Flüssigkeitsstraßen wie Barrieren wirken“, ergänzt Christian Westendorf, Zweitautor der Studie.

Steter Wechsel der Strömungsrichtung

Doch anders als das Straßennetz, in dem wir uns tagtäglich mit dem Auto oder Fahrrad bewegen, sind diese Flüssigkeitsstraßen keinesfalls starr. Zur Überraschung der Forscher wechselten die Härchen in einem zeitlichen Rhythmus ihre Schlagrichtung. Nach vorherrschender Lehrmeinung gilt die Schlagrichtung der Flimmerhärchen jedoch als unveränderbar.

„Im Hirnwasser bei uns Menschen gibt es Hunderte, wenn nicht sogar Tausende physiologisch wirksamer Substanzen“, wie Eichele betont. „Das von uns entdeckte Netzwerk von Strömen spielt vermutlich eine wichtige Rolle, um diese Stoffe zu verteilen. In weiteren Versuchen möchten wir aufklären, welche Botenstoffe über die Ströme transportiert und wo diese schließlich im Gewebe deponiert werden.“ „Auch ist das Verständnis von der Physik der Strömungsdynamik der Flimmerhärchen selbst ein Forschungsziel“, ergänzt Bodenschatz.

Max-Planck-Gesellschaft, 7. Juli 2016

 

Originalpublikation:

Regina Faubel, Christian Westendorf, Eberhard Bodenschatz, Gregor Eichele. Cilia-based flow networks in the brain ventricles. Science; 8 July, 2016. DOI: 10.1126/science.aae0450

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