Bereits Kleinkinder setzen sich für eine opferorientierte Gerechtigkeit ein

Schon Kleinkinder können zwischen Täter und Opfer unterscheiden, selbst wenn es sich dabei um Handpuppen handelt: Sie nehmen einer Puppe Gegenstände weg, die diese zuvor einer anderen Puppe „weggenommen“ hatte. © MPI f. evolutionäre Anthropologie

Schon Kleinkinder können zwischen Täter und Opfer unterscheiden, selbst wenn es sich dabei um Handpuppen handelt: Sie nehmen einer Puppe Gegenstände weg, die diese zuvor einer anderen Puppe „weggenommen“ hatte.
© MPI f. evolutionäre Anthropologie

Viele Menschen glauben Kleinkinder seinen stur, egoistisch und unfähig, mit anderen zu teilen. Doch wie Forscher nun herausgefunden haben verfügen dreijährige Kinder bereits über ein überraschend hohes Maß an Fürsorge und einen ausgeprägten Sinn für eine opferorientierte Gerechtigkeit. So geben sie entwendetes Eigentum bevorzugt an deren rechtmäßigen Besitzer zurück. Wenn das nicht möglich ist, hindern sie andere daran sich unrechtmäßig etwas anzueignen, was ihnen nicht zusteht. Darüber hinaus setzen sich sowohl Drei- als auch Fünfjährige genauso stark für die Bedürfnisse einer anderen Person ein, wie für ihre eigenen – selbst dann, wenn es sich bei dieser um eine Handpuppe handelt. Die Ergebnisse der Studie mit Kindern aus Deutschland vermitteln neue Erkenntnisse darüber wie sich der Gerechtigkeitssinn im Laufe der Evolution entwickelt hat.

„Die Sorge um andere, etwa in Form von Empathie, scheint ein Hauptbestandteil des menschlichen Gerechtigkeitssinns zu sein“, sagt Keith Jensen von der Universität Manchester. „Die Gerechtigkeit Opfern gegenüber und die Bestrafung der Täter – beides grundlegende Bestandteile der menschlichen Kooperation – sind möglicherweise auch für das einzigartige Sozialverhalten des Menschen von zentraler Bedeutung.“

Menschen arbeiten häufig zusammen, wenn es um die Bestrafung von Trittbrettfahrern geht. Schimpansen dagegen bestrafen Betrüger nur dann, wenn sie selbst geschädigt wurden. Um die Wurzeln des Gerechtigkeitssinns beim Menschen besser zu verstehen, untersuchen Forscher die frühe Entstehung dieser Eigenschaft bei Kleinkindern. Studien zufolge teilen Kinder lieber mit einer Handpuppe, die zuvor einer anderen Person „geholfen“ hatte, als mit einer, die sich „schlecht benommen“ hatte.

Sie bevorzugen außerdem, dass die Puppe bestraft wird, die die Strafe verdient, nicht jedoch die, die sie nicht verdient. Ab einem Alter von sechs Jahren sind Kinder sogar bereit, einen Preis zu zahlen, um fiktionale oder reale Spielkameraden für ein Fehlverhalten zu bestrafen. Die Androhung einer Strafe motiviert Vorschulkinder dazu, sich großzügiger zu verhalten.

Um herauszufinden, was dem Gerechtigkeitssinn von Kleinkindern zugrunde liegt, führten Katrin Riedl, Keith Jensen und Kollegen am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie eine Studie mit Drei- und Fünfjährigen durch. Die Kinder konnten einer Handpuppe Gegenstände wegnehmen, die diese zuvor einer anderen Handpuppe „weggenommen“ hatte. Das Ergebnis: Dreijährige Kinder setzten sich für das „Opfer“ – die bestohlene Handpuppe – ebenso ein (in 40% der Fälle), als wären sie selbst betroffen (in 50% der Fälle). Bei Fünfjährigen fiel das Ergebnis noch deutlicher aus: Sie wehrten sich in 80% der Fälle, wenn sie selbst betroffen waren und setzten sich in etwa 70% der Fälle für die betroffene Puppe ein. Aus allen zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten entschieden sie sich am ehesten dafür,  dem rechtmäßigen Besitzer das entwendete Eigentum zurückzugeben. „Es scheint, dass sich der Gerechtigkeitssinn im Zusammenhang mit dem einem Opfer entstandenen Schaden bereits in der frühen Kindheit entwickelt“, so die Autoren.

Die neuen Erkenntnisse betonen die hohe Bedeutung, die dem Eingreifen Dritter für das Durchsetzten menschlicher Gerechtigkeit zukommt. Sie könnten sich auch für Eltern und Kindergartenerzieher als nützlich erweisen. „Vorschulkinder reagieren feinfühlig, wenn anderen ein Schaden entsteht. Vor die Wahl gestellt, helfen sie lieber dem Opfer dabei, den Schaden zu beseitigen als den Übeltäter zu bestrafen“, sagt Jensen. „Anstatt Kinder für ein Fehlverhalten zu bestrafen oder das Fehlverhalten anderer mit ihnen auf eine strafende oder schuldzuweisende Art zu besprechen, können Kinder den Schaden, der dem Opfer entstanden ist, und die Schadensbehebung als Lösung möglicherweise besser nachvollziehen.“

Max-Planck-Gesellschaft, 18. Juni 2015

 

Originalpublikation:

Katrin Riedl, Keith Jensen, Josep Call, Michael Tomasello
Restorative Justice in Children. Current Biology, 18 June 2015, DOI: 10.1016/j.cub.2015.05.014

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