Kopieren ist einfacher als etwas völlig neues zu entwickeln. Lange Zeit dachte man, dieses Prinzip gelte auch für die Evolution von Genen. Demnach hat die Evolution bereits existierende Gene zunächst vervielfacht und die Kopien dann an neue Aufgaben angepasst. Doch wie sind dann die ersten Gene entstanden? Und können auch heute noch völlig neue Gene entstehen? Forscher haben diese Frage untersucht, indem sie nach neu entstandenen Genen bei Maus, Mensch und Fisch gesucht haben. Den Forschern zufolge entstehen im Laufe der Evolution ständig neue Gene. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie kürzer und einfacher aufgebaut sind, als alte Gene. Diese und andere Unterschiede zwischen jungen und alten Genen deuten darauf hin, dass Gene auch komplett neu entstehen können – aus zuvor funktionslosen Erbgutabschnitten. Dabei nutzen sie oft vorhandene regulatorische Elemente anderer Gene, bevor sie ihre eigenen bilden.
Als Forscher die ersten Gene entschlüsselten, machten sie eine überraschende Entdeckung: Viele Gene kommen selbst in ganz unterschiedlichen Organismen in ähnlichen Varianten vor. Dieses Phänomen lässt sich damit erklären, dass die Evolution vorhandene Gene nutzt und für neue Aufgaben mehr oder weniger stark abwandelt. Dabei kommt der Vervielfachung von Genen eine große Bedeutung zu. Dazu werden von einem Gen Kopien angefertigt und im Erbgut eingebaut. Mit diesen Kopien kann die Evolution dann experimentieren, während die Vorlage ihre Funktion unverändert weiter erfüllen kann. Völlig neue Gene kommen in diesem Modell dagegen nur selten vor.
Rafik Neme und Diethard Tautz vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie haben diese Vorstellung nun widerlegt. Nachdem es bereits erste Hinweise auf einzelne Gene gab, die offenbar völlig neu entstanden sind, haben sie die mehr als 20.000 Gene der Maus analysiert und ihren Ursprung zurückverfolgt. Demnach sind Gene, die später in der Evolution entstanden, häufig kürzer als solche, die schon länger existieren. Darüber hinaus besitzen jüngere Gene weniger Exons und weniger Protein Domänen. Das widerspricht gängigen Vorstellungen: „Wenn neue Gene lediglich weiterentwickelte Kopien älterer Gene sind, würde man einen solchen Zusammenhang zwischen Länge und Alter nicht erwarten. Ein junges Gen braucht dagegen Zeit, um zusätzliche Exons und Introns hinzu zu gewinnen. So kommt es, dass Gene im Laufe der Zeit länger werden und aus vielen Exons und Introns bestehen“, erklärt Rafik Neme vom Max-Planck-Institut in Plön. Analysen der Gene von Mensch, Zebrafisch und Stichling bestätigten die bei der Maus gefundenen Zusammenhänge.
Die Forscher haben darüber hinaus noch einen Weg untersucht, wie aus bereits existierenden Genen neue Gene entstehen können: mit einem Wechsel des Leserasters. Das Leseraster für das Erbgut umfasst drei aufeinanderfolgende Buchstaben des genetischen Alphabets. Jedes dieser Tripletts steht für eine Aminosäure, in die der genetische Code übersetzt wird. Wird dieses Leseraster verschoben, entstehen dadurch neue Tripletts und das Erbgut wird daraufhin in völlig andere Aminosäuren übersetzt. „Wir haben mehrere Fälle gefunden, in denen Gene durch einen solchen Wechsel des Leserasters überschrieben wurden“, sagt Neme. Ein Beispiel ist das sogenannte Hoxa9-Gen – ein Gen, das die Embryonalentwicklung steuert. Dieses Gen nutzt bei Nagetieren und Primaten ein solches zusätzliches alternatives Leseraster.
Den Ergebnissen der Forscher zufolge stammen etwa 60 Prozent der Gene von den einzelligen Vorfahren aus der Frühphase der Evolution. Besonders viele neue Gene kamen dann immer bei fundamentalen Neuerungen in der Evolution hinzu: Beispielsweise am Übergang vom Ein- zum Mehrzeller oder bei der Entstehung der Wirbeltiere. Auch bei der Aufspaltung der Entwicklungslinie von Ratte zu Maus sind besonders viele Gene neu entstanden. Interessanterweise fanden die Forscher nur wenige Bereiche auf den Chromosomen, in denen neu entstandene Gene gehäuft vorkommen. Sie sind vielmehr relativ gleichmäßig über das gesamte Erbgut verteilt. Eine der wenigen Ausnahmen ist eine Ansammlung von Genen auf Chromosom 14, die unter anderem die Aktivität von Nervenzellen steuern.
Gene entstehen in der Evolution also regelmäßig von Grund auf neu. Sie entstehen dabei in den nicht kodierenden Abschnitten des Erbguts, die zwischen den alten Genen liegen. Dafür sind oft nur geringfügige Änderungen notwendig. „Gene benötigen zum Beispiel Elemente, die ihre Aktivität kontrollieren, sogenannte Promotoren. Wie es scheint, können neue Gene die Promotoren anderer Gene zweckentfremden und für sich selber nutzen“, erklärt Diethard Tautz, Leiter der Abteilung Evolutionsgenetik am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie.
Max-Planck-Gesellschaft, 18. März 2013
Originalpublikation:
Rafik Neme and Diethard Tautz. Phylogenetic patterns of emergence of new genes support a model of frequent de novo evolution. BMC Genomics 2013, 14:117 doi: 10.1186/1471-2164-14-117