Erbkrankheiten: die Kehrseite unseres hochkomplexen Immunsystems

Blutzellen. © public domain.

Blutzellen. © public domain.

Im Laufe unseres langen Lebens muss unser Immunsystem sich mit vielen verschiedenen Krankheitserregern herumschlagen. Damit es diesen Kampf gewinnen kann verfügt es über eine Vielzahl hoch variabler Gene, von denen jeder Einzele von uns über individuelle Varianten verfügt. Diese hohe Variabilität der Immungene sichert den Fortbestand unserer Art. Nur so wird es immer Menschen geben, die Seuchen, wie die Pest, Grippeepidemien oder andere Infektionskrankheiten überleben. Doch die balancierte Selektion, die zu dieser überlebensnotwendigen Vielfalt führt hat auch eine Kehrseite: Sie sorgt gleichzeitig dafür, das sich Risikogene für Krankheiten in unserem Erbgut halten können. Wie die Max-Planck-Gesellschaft berichtet.

Mutierte Gene können Erbkrankheiten auslösen: Bisher kennt man krankmachende Varianten von 11.000 Genen des menschlichen Erbguts. Solche Mutationen können jedes Gen treffen. Doch da manche dieser Genvarianten lebenswichtige Funktionen betreffen kommen sie nicht alle in der menschlichen Bevölkerung vor. Forscher des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön und der Harvard Medical School haben nun untersucht, warum solche Risiko-Gene nicht durch die Selektion beseitigt werden, sondern langfristig im Erbgut des Menschen erhalten bleiben. Laut den Forschern könnte das mit unserem langen Leben zusammenhängen, in dessen Verlauf wir den Kampf gegen eine Vielzahl von Krankheitserregern gewinnen müssen. Dazu hat im Laufe der Evolution die Vielfalt unserer Immungene massiv zugenommen. Doch dafür zahlen wir einen hohen Preis: Denn diese Vielfalt betrifft den Forschern zufolge auch DNA-Abschnitte, die neben den Immungenen liegen, so dass auch dort viele verschiedene Genvarianten bestehen bleiben, die dann mitunter schädlich sind.

Generell ist Vielfalt im Erbgut positiv: Nur so konnte sich der Mensch im Laufe der Evolution zu dem entwickeln, was er heute ist. Denn erst die individuellen Varianten einzelner Gene bieten die zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten, die den Reichtum und das Potential jeder Population ausmachen und ihr erlauben sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen. Aufgrund des genetischen Triplettcodes wirken sich diese Genvarianten entweder überhaupt nicht, positiv oder negativ auf ihre Träger aus. Je nach dem, ob die Mutation zu einem Austausch einer Aminosäure führt und ob die veränderte Aminosäure in dem betroffenen Protein zu einer verbesserten oder verschlechterten Funktion führt.

Schädliche Genvarianten führen in der Regel zu einem Überlebensnachteil und werden daher im Laufe der Evolution durch natürliche Selektion immer seltener. Doch wie die Forscher berichten, halten sich einige Risiko-Genvarianten, wie etwa für Alzheimer oder Krebs, schon seit langer Zeit in der Bevölkerung, ohne, dass ihr Zahl abnimmt.

Dem Forscherteam um Tobias Lenz und Shamil Sunyaev zufolge könnte das Vorkommen schädlicher Genvarianten der Preis für die genetische Vielfalt sein, die an anderer Stelle unser Überleben garantiert. Um diese Frage zu klären untersuchten sie eine Gruppe von Proteinen des Immunsystems, die dabei hilft, körperfremde Moleküle zu erkennen. Sie werden beim Menschen Humane Leukocyten Antigene.genannt und spielen eine zentrale Rolle im Immunsystem aller Wirbeltiere. Die Gene für diese Proteine enthalten sehr viele variable Stellen und kommen in der Bevölkerung in unterschiedlichen Varianten vor. Diese Vielfalt stellt sicher, dass unser Immunsystem viele verschiedene Erreger erkennen kann.

Eine besondere Form der Selektion hält diese Vielfalt der Immunproteine in einer Population aufrecht: Die sogenannte balancierte Selektion. Sie entsteht, wenn es für ein Individuum einer Population vorteilhaft ist, wenn es zwei verschiedene Varianten eines Gens besitzt. Das ist etwa dann der Fall, wenn es ein HLA-Gen besitzt, mit dem seine Immunzellen gut ein bestimmtes Grippevirus erkennen und einen anderen, mit dem sie den Tuberkuloserreger besonders gut unschädlich machen können. Verfügte der Betroffene nur über eine dieser beiden Genvarianten, so würde er möglicherweise an einer der beiden Krankheiten sterben. Deshalb sorgt die Selektion dafür, dass Träger beider Genvarianten im Vergleich zu solchen mit nur einer der beiden Varianten im Vorteil sind. So bleibt die Vielfalt erhalten.

Schädliche Mutationen bleiben erhalten

Doch laut den Forschern bewirkt diese balancierte Selektion auch, dass schädliche Genvarianten mitunter erhalten bleiben. Dazu simulierten sie am Computer verschiedene Möglichkeiten der Selektion. Eine balancierte Selektion erhöhte dabei nicht nur die Vielfalt der Immunproteine, sondern auch die benachbarter DNA-Abschnitte. Dort verringert sie zwar die Anzahl variabler Bereiche, steigert aber gleichzeitig die Häufigkeit, mit der diese Varianten in der Bevölkerung vorkommen – selbst, wenn diese schädlich sind.

Anschließend überprüften die Forscher ihre Hypothese mit Daten einer Erbgutanalyse von 6500 Menschen. Mit einem erstaunlich eindeutigen Ergebnis: Wie in der Simulation treten in unmittelbarer Nähe der Gene des Immunsystems zwar nur wenige variable Bereiche auf, dafür sind die verschiedenen Varianten in der Bevölkerung vergleichsweise häufig und oft schädlich.

Das erklärt, wie Schädliche Gene der natürlichen Selektion entgehen können. „Ich habe durchaus erwartet, dass eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen Erreger zu einer Häufung von schädlichen Mutationen führen könnte. Aber das Ausmaß, in dem schädliche Mutationen erhalten bleiben, hat mich dann doch überrascht. Es wäre interessant zu wissen, wie viele genetisch bedingte Erkrankungen des Menschen tatsächlich auf den Kontakt mit Krankheitserregern zurückgehen, denen wir im Laufe unserer Evolution begegnet sind“, sagt Lenz vom Max-Planck-Institut in Plön.

Als nächstes wollen die Forscher herausfinden, ob die balancierte Selektion auch an anderen Stellen des Genoms auf gleiche Weise für einen Erhalt schädlicher Genvarianten in der Bevölkerung sorgt.

von Ute Keck, 1. September 2016

Originalpublikation:

Tobias L. Lenz, Victor Spirin, Daniel M. Jordan, & Shamil R. Sunyaev
Excess of deleterious mutations around HLA genes reveals evolutionary cost of balancing selection. Molecular Biology and Evolution; epub ahead of print, 28 June 2016. doi: 10.1093/molbev/msw127

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