Wie sich vielzellige Organismen aus Einzellern entwickelt haben könnten

 In solchen Kulturschalen mit verschiedenen Linien von Pseudomonas fluorescens haben Forscher die Entstehung einfacher fortpflanzungsfähiger Zellverbände aus Einzelzellen beobachtet. © Gayle Ferguson


In solchen Kulturschalen mit verschiedenen Linien von Pseudomonas fluorescens haben Forscher die Entstehung einfacher fortpflanzungsfähiger Zellverbände aus Einzelzellen beobachtet.
© Gayle Ferguson

Alle vielzelligen Lebewesen stammen von Einzellern ab. Eine Entwicklung vom Einzeller zu einem vielzelligen Organismus ist nur möglich, wenn die ursprünglich einzeln lebenden Zellen ihre Unabhängigkeit aufgeben und zusammenarbeiten. Dabei galten bisher sogenannte Betrügerzellen als großes Hindernis für die Entwicklung  vielzelliger Organismen, da diese Zellen die Kooperation der anderen zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen. Wissenschaftler haben nun beobachtet, wie aus Einzellern einfache, fortpflanzungsfähige Zellverbände entstehen können. In ihrem Labor hat sich aus Einzelzellen des Bakteriums Pseudomonas fluorescens eine Vorstufe eines vielzelligen Organismus mit einem einfachen Lebenszyklus entwickelt. Dabei spielten die Betrügerzellen eine zentrale Rolle. Denn sie entwickelten sich zu einer Art Vorläufer von Geschlechtszellen, über die sich die Zellverbände vermehren konnten. Dabei nahm die Überlebensfähigkeit der Zellverbände immer mehr zu, während die der Einzelzellen stetig abnahm. Das werteten die Forscher als Beleg dafür, dass ein neuer Organismus entstanden war.

Die einzelnen Bakterienzellen von Pseudomonas fluorescens leben für gewöhnlich unabhängig voneinander. Mutationen ermöglichen es jedoch manchen Zellen, Haftproteine zu produzieren und nach der Zellteilung miteinander verbunden zu bleiben. Dadurch können sie zusammenhängende Zellverbände bilden. Bakterien, die sich zu solchen Bakterienmatten zusammenschließen haben den Vorteil, dass ihnen in diesem Zusammenschluss mehr Sauerstoff zu Verfügung steht. Das gleicht den Aufwand für die Produktion der Haftproteine wieder aus. Diese Bakterienverbände oder Matten könnten ein möglicher Ursprung der Vielzelligkeit sein. Allerdings müssen sie dann immer noch einen Weg finden, um sich zu vermehren.

Zellen, die selbst keine Haftproteine mehr bilden, sparen sich den Aufwand für die Produktion der Haftproteine und kommen trotzdem in den Genuss des hohen Sauerstoffgehalts, ohne selbst etwas dazu beizutragen. Wenn sich jedoch immer mehr dieser Betrügerzellen ansammeln, wird irgendwann zu wenig Klebstoff produziert und die Bakterienmatte löst sich auf. Deshalb waren die Wissenschaftler lange Zeit davon ausgegangen, dass die Evolution solche Betrüger eliminieren muss, die wie Trittbrettfahrer die Kooperationsbereitschaft anderer ausnutzen. Nur dann könnten sich vielzellige Organismen entwickeln.

Wie sich zeigte, ist das aber gar nicht der Fall. Ganz im Gegenteil fördern die Betrügerzellen die Entwicklung und Ausbreitung der Bakterienmatten. Obwohl sie die Matte zerstören, sind sie gleichzeitig ihr „Retter“. Wie erklärt sich dieses Paradoxon? Der Nutzen der Betrügerzellen für die Gemeinschaft liegt darin, dass sie den Ursprung von Keimzellen und auf die Vermehrung spezialisierte Zellen darstellen könnten. Sie würden damit die Voraussetzung für die Fortpflanzung vielzelliger Organismen begründen.

In den Experimenten verglichen die Forscher zwei verschiedene Lebenszyklen, die die Evolution der Bakterienmatten beeinflussten. Im ersten Fall entnahmen sie aus jeder Mattengeneration nur Betrügerzellen und züchteten daraus neue Kolonien. Im zweiten Fall entfernten die Wissenschaftler die Betrügerzellen. Erstaunlicherweise wuchs in beiden Fällen die Überlebenstauglichkeit der so entstanden Bakterienmatten, also ihre biologische Fitness – unter der Voraussetzung, dass die Matten miteinander konkurrierten.

Darüber hinaus stellten die Forscher fest, dass sich in ihren Experimenten die biologische Fitness der Zellverbände von der der einzelnen Zellen abkoppelt, wenn Betrügerzellen Teil des Lebenszyklus sind: Verbände mit hoher Überlebensfähigkeit bestanden aus Zellen mit relativ gesehen geringer individueller Fitness. Die Einzelzellen haben in diesen Verbänden also zugunsten der Allgemeinheit auf eigene Vorteile verzichtet. Die so entstandenen Bakterienmatten sind also mehr als ein zufälliger Zusammenschluss vieler Zellen. Sie haben sich vielmehr zu einem vielzelligen Organismus entwickelt, dessen biologische Fitness größer ist als die Summe der Fitness seiner Einzelzellen.

Solche aus zwei Phasen bestehenden Lebenszyklen sind typisch für die meisten heute lebenden vielzelligen Organismen. Möglicherweise sind die Zellen der Keimbahn, Ei- und Samenzellen, im Laufe der Evolution aus solchen egoistischen Betrügerzellen hervorgegangen.

Max-Planck-Gesellschaft, 6. November 2014

 

Originalpublikation:

Katrin Hammerschmidt, Caroline Rose, Ben Kerr and Paul B. Rainey. Life cycles, fitness decoupling and the evolution of multicellularity. Nature 6. November 2014 doi:10.1038/nature13884

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