Schwellenwert bestimmt Grad der Hirnfaltung bei Säugetieren

 Der Karibik-Manati kommt offenbar mit weniger Gehirnkapazität aus: Das Gehirn der Seekuh-Art hat seine Faltung im Laufe der Evolution wieder zurück entwickelt. © Albert kok. CC BY-SA 3.0


Der Karibik-Manati kommt offenbar mit weniger Gehirnkapazität aus: Das Gehirn der Seekuh-Art hat seine Faltung im Laufe der Evolution wieder zurück entwickelt.
© Albert kok. CC BY-SA 3.0

Der Neocortex ist der Teil des Gehirns, der uns Menschen das Sprechen und Denken ermöglicht. Seine Ausbildung im Laufe der Evolution ist bisher noch nicht eingehend erforscht. Wissenschaftler haben nun eine wichtige Entdeckung gemacht: Sie konnten einen bestimmten Wert der Hirnfaltung identifizieren, der Säugetiere in zwei Gruppen einteilt. Überschreitet eine Tierart diesen Wert, so entwickelt sie ein stark gefaltetes Gehirn. Nach dieser Theorie müssen die Säugetiere den Weg zu stark gefalteten Gehirnen in ihrer Entwicklungsgeschichte mehrfach beschritten haben.

Die Forscher schauten sich Hirnschnitte von rund 100 verschiedenen Säugetierarten an und versahen dabei die Faltung des Gehirns mit einem Index. Schnell zeigte sich: Säugetiere lassen sich in zwei große Gruppen einteilen, die sich in dem Grad ihrer Hirnfaltung unterscheiden. Der für diese Einteilung zuständige Schwellenwert entspricht etwa einer Milliarde Nervenzellen im Neocortex. Delfine und Füchse beispielsweise liegen über diesem Schwellenwert. Das hat drastische Auswirkungen: Ihr Gehirn ist intensiver gefaltet und besteht aus deutlich mehr Nervenzellen.

Tiere die diesen Schwellenwert überschreiten besitzen ein besonderes Programm zur Produktion von Nervenzellen während ihrer Gehirnentwicklung, bei dem sich sogenannte basale Vorläuferzellen vervielfachen können. So werden deutlich mehr Nervenzellen produziert, als bei Tieren, die unter diesem Schwellenwert liegen. Mäuse oder das karibische Manati, eine Seekuh-Art, hingegen liegen unter diesem Schwellenwert. Bei ihrer Gehirnentwicklung findet keine Vervielfachung basaler Vorläuferzellen statt. Ihre Gehirne sind deshalb wenig bis gar nicht gefaltet.

Beim Vergleich der Hirnfaltung verschiedener Tierarten zeigte sich, dass sich der Faltungsgrad der Säugetiergehirne in der Evolution nicht kontinuierlich weiter entwickelt hat. Im Gegenteil: Schon das vor rund 200 Millionen Jahren lebende Ursäugetier hatte ein gefaltetes Gehirn. Im Laufe der Evolution entschied sich an jeder Gabelung der Entwicklung, ob die Hirnfaltung der betreffenden Tierart reduziert oder erhöht werden sollte. Dabei dürften für den Grad der Faltung wohl die Lebensumstände der jeweiligen Tierart eine entscheidende Rolle gespielt haben: Tiere mit wenig oder gar nicht gefalteten Gehirnen leben etwa vorwiegend in kleinen Gruppen, die sich nur in eng bemessenen Lebensräumen bewegen. Während die Säugetiere mit stark gefalteten Gehirnen meist in großen soziale Verbänden zusammenleben, die sich über teils sehr weitläufige Gebiete erstrecken.

 Die Ahnengalerie der Superhirne: Die Evolution kann sich an jeder Gabelung entscheiden, ob sich das Gehirn einer Art stärker oder schwächer auffaltet. Entscheidend ist ein Schwellenwert von 1,5, der Säugetiere in zwei Gruppen einteilt: Arten mit stark gefalteten oder wenig bis gar nicht gefalteten Gehirnen. © PLoS Biology unter Verwendung von Hirnschnitten von http://brainmuseum.org


Die Ahnengalerie der Superhirne: Die Evolution kann sich an jeder Gabelung entscheiden, ob sich das Gehirn einer Art stärker oder schwächer auffaltet. Entscheidend ist ein Schwellenwert von 1,5, der Säugetiere in zwei Gruppen einteilt: Arten mit stark gefalteten oder wenig bis gar nicht gefalteten Gehirnen.
© PLoS Biology unter Verwendung von Hirnschnitten von http://brainmuseum.org

Unterschied in Dauer und Tempo der Gehirnentwicklung

Die Gehirne von Säugetieren, die stärker gefaltet sind verfügen jedoch nicht nur über deutlich mehr Nervenzellen, sondern diese wachsen auch während der Embryonalentwicklung in einem ganz anderen Tempo. An jedem Tag im Verlaufe ihrer Tragzeit nimmt bei dieser Säugetiergruppe  Gehirngewicht um das 14-fache zu.

Aber selbst innerhalb dieser beiden Gruppen von Säugetieren gibt es noch deutliche Unterschiede. Entscheidend hierfür ist, wie lange sich die Nervenzellen vermehren können: Die Tragzeiten von Mensch und Menschenaffe unterschieden sich nur um acht bis neun Tage. Aber diese wenigen Tage führen dazu, dass ein menschlicher Embryo länger Nervenzellen im Neocortex produzieren kann und unser Gehirn dadurch dreimal so groß wird, wie das eines Menschenaffen.

Max-Planck-Gesellschaft, 21. November 2014

 

Originalpublikation:

Eric Lewitus, Iva Kelava, Alex T. Kalinka, Pavel Tomancak, Wieland B. Huttner. An Adaptive Threshold in Mammalian Neocortical Evolution PLOS Biology, 18. November 2014 doi: 10.1371/journal.pbio.1002000

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