Ein Forscherteam untersuchte Muschelschalen, die aus Ksâr ‘Akil im Libanon stammen. Ksâr ‘Akil ist eine der wenigen archäologischen Fundstätten im Nahen Osten, wo Fossilien moderner Menschen in den gleichen Fundschichten wie Werkzeuge aus dem frühen Jungpaläolithikum ausgegraben wurden. Mithilfe der Radiokohlenstoff-Datierung bestimmten die Forscher das Alter von Muschelschalen der Art Phorcus turbinatus, deren Fleisch einst von unseren menschlichen Vorfahren verspeist worden war. Wie sie nun belegen konnten haben sich moderne Menschen bereits vor mindestens 45.900 Jahren in der Levante aufgehalten. Das bestätigt die Präsenz anatomisch moderner Menschen mit Werkzeugen aus dem frühen Jungpaläolithikum in der Levante vor ihrer Ankunft in Europa und belegt, dass die Levante modernen Menschen als Korridor für die Besiedlung Europas diente.
Wann genau moderne Menschen sich von Afrika ausgehend nach Eurasien ausbreiteten ist unter Archäologen, Paläontologen und Genetikern ein umstrittenes Thema. Diente die Levante als Korridor, der die Ausbreitung moderner Menschen aus der Epoche des Jungpaläolithikums erleichterte? „Das Problem ist, dass sowohl in der Levante als auch in Europa nur sehr wenige menschliche Überreste gefunden wurden, die dem Jungpaläolithikum, also dem jüngsten Abschnitt der Altsteinzeit, zugeordnet werden können“, sagt Jean-Jacques Hublin, Professor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
„Ksâr ‘Akil ist eine so wichtige Fundstätte, weil dort die fossilen Überreste zweier moderner Menschen zusammen mit ihren Werkzeugen gefunden wurden, die der Epoche des Jungpaläolithikums zugehörig sind. Ihre Entdecker haben die beiden Individuen Ethelruda und Egbert genannt“, erklärt Marjolein Bosch vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Unsere Untersuchungen zeigen, dass Egbert vor etwa 43.000 Jahren und Ethelruda vor mindestens 45.900 Jahren lebte, möglicherweise sogar noch früher. Ethelruda ist also älter als alle bisher in Europa gefundenen modernen Menschen“, sagt Johannes van der Plicht vom Zentrum für Isotopenforschung der Universität Groningen in den Niederlanden. „Werkzeuge, die denen ähneln, die Ethelruda und Egbert zugeordnet werden, finden sich auch in anderen Fundstätten in der Levante und in Europa. Diese ähnlichen Werkzeuge sowie die frühere zeitliche Einordnung der Funde aus dem Nahen Osten lassen auf eine Ausbreitung moderner Menschen vom Nahen Osten ausgehend nach Europa zwischen 55.000 und 40.000 Jahren schließen“, sagt Bosch.
Die Autoren untersuchten insgesamt 3.500 Muscheln, die 49 Arten zugeordnet werden konnten. Die am besten erhaltenen waren solche, deren Fleisch Menschen einst als Nahrungsmittel verspeisten. „Wir wissen beispielsweise, dass Weichtiere der Art Phorcus turbinatus von Menschen des Jungpaläolithikums gegessen wurden. Um das Fleisch besser entnehmen zu können, hatten sie den oberen Teil dieser Muscheln häufig abgeschnitten“, erklärt Marcello Mannino vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Die Muschelschalen aus der Levante mithilfe der Radiokohlenstoffmethode zu datieren war eine große Herausforderung für die Forscher. „Die 14C-Datierung von Muschelschalen ist eine Technologie, die sich noch in der Entwicklungsphase befindet. Bis jetzt gab es keine narrensichere Methode, um das Alter von Muschelschalen-Proben zu bestimmen, die durch die lange Lagerung im Boden chemisch verändert wurden“, sagt van der Plicht. „Wir haben daher einen neuen Ansatz entwickelt, bei dem wir Radiokohlenstoffdaten und biochemische Daten miteinander kombinieren“, sagt Mannino. „Eine solche Technologie, die ‘intra-kristalline Proteindiagenese’, bestimmt inwiefern Aminosäuren in der intra-kristallinen Struktur von Muschelschalenkarbonaten erhalten geblieben sind“, erklärt Beatrice Demarchi von der Universität York. Eine Kombination dieser neuen Analysemethoden ermöglichte es den Autoren jetzt, eine aussagekräftige neue Datierung der Funde aus Ksâr ‘Akil vorzulegen.
Die Ergebnisse bestätigen: Moderne Menschen, die jungpaläolithische Werkzeuge verwendeten, lebten bereits in der Levante, bevor sie in Europa erstmals auftauchten. Denn alle bisherigen Fossilfunde moderner Menschen in Europa sind jünger als diese. „Das wiederum lässt darauf schließen, dass die Levante als Korridor für die Verbreitung moderner Menschen von Afrika ausgehend nach Eurasien gedient hat“, sagt Hublin.
Max-Planck-Gesellschaft, 1. Juni 2015
Originalpublikation:
Marjolein D. Bosch, Marcello A. Mannino, Amy L. Prendergast, Tamsin C. O’Connell, Beatrice Demarchi, Sheila Taylor, Laura B. Niven, Johannes van der Plicht, and Jean-Jacques Hublin. New chronology for Ksâr ‘Akil (Lebanon) supports Levantine route of modern human dispersal into Europe. Proceedings of the National Academy of Sciences, 1 June 2015. doi: 10.1073/pnas.1501529112