Ohne Migration ist die Geschichte der Menschheit nicht denkbar. Wie unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen und Gorillas, entwickelten sich unsere Vorfahren in Afrika. Von dort aus verbreitete sich der Mensch in mehreren Auswanderungswellen über den Rest der Welt. Geographisch voneinander isolierte Populationen entwickelten dabei nicht nur unterschiedliche Lebensweisen, sondern auch einen leicht unterschiedlichen Genpool. Durch die Vermischung dieser unterschiedlichen Menschenformen zunächst in Afrika und später in anderen Regionen der Welt konnte sich der moderne Mensch zu dem entwickeln, was ihn heute ausmacht: Einer extrem vielseitigen, anpassungsfähigen, erfolgreichen und hoch intelligenten Spezies. Die Gene der heutigen Europäer etwa gehen auf mindestens vier Einwanderungswellen in der Frühgeschichte der Menschheit zurück.
Vor rund 1,8 Millionen Jahren entwickelten sich in Afrika mit Homo erectus die ersten Homininen. Sie fertigten Steinwerkzeuge an und waren bereits dazu in der Lage Feuer zu machen. Die neue Spezies war so erfolgreich, dass sie sich rasch auch nach Europa und Asien ausbreitete. Vor 1,2 Millionen Jahren gab es auf der ganzen Welt rund 55.000 Individuen dieser Menschenform. Aus ihr ging im Laufe der Evolution vor rund 300.000 Jahren der Neandertaler hervor.
Der Neandertaler war über 200.000 Jahre in Eurasien beheimatet. Damit lebte er wesentlich länger in Europa, als der moderne Mensch. Schätzungen zufolge gab es zu seinen besten Zeiten in Europa rund 10.000 Neandertaler. Sie streiften in Sippen von 20 bis 30 Mitgliedern durch die damalige europäische Steppenlandschaft und machten mit ihren selbst gefertigten Speeren Jagd auf Großwild. Sie verfügten bereits über ein ausgeprägtes Sozialverhalten, indem sie sich um alte und schwache Mitglieder ihrer Gruppe kümmerten und ihre Toten mit Begräbnisritualen beerdigten. Krankheiten behandelten sie mit Heilpflanzen, wie etwa der Schafgarbe und Kamille. Das ist keineswegs überraschend, denn selbst Schimpansen nutzen Heilpflanzen, wenn sie sich unwohl fühlen. Zur Vermittlung des Wissens, wie man Jagdwaffen herstellt müssen die Neandertaler eine Sprache genutzt haben, denn sie verwendeten bereits Birkenpech, um Speerspitzen am Schaft ihrer Speere zu befestigen. Darüber hinaus gehen auch die ersten Höhlenmalereien im Süden Europas wahrscheinlich auf ihr Konto. Und sie verfügten auch bereits über einen Sinn für Schönheit, indem sie Schmuck aus Muschelschalen herstellten, den sie bunt anfärbten.
Zur gleichen Zeit, vor rund 200.000 Jahren, entwickelte sich aus den in Afrika verbliebenen Homininen ebenfalls eine neue Menschenform: Der moderne Mensch, Homo sapiens. Unsere direkten Vorfahren begannen vor etwa 100.000 Jahren langsam damit aus Afrika auszuwandern. Dabei trafen sie im Mittleren Osten, etwa in Galiläa, auf den Neandertaler, der wegen einer Kältephase von Europa nach Süden ausweichen musste. In dieser Region vermischten sich die beiden Menschenarten mindestens zwei Mal. Einmal vor rund 100.000 Jahren und ein zweites Mal vor etwa 60.000 Jahren. Denn dort lebten die beiden Menschenformen rund 60.000 Jahre im gleichen Gebiet.
Die Gene, die unsere Vorfahren bei der Vermischung mit dem Neandertaler erhielten, machten sie fit für ein Leben in nördlicheren Gefilden: Sie erhöhen die Blutgerinnung. Was für Großwildjäger außerordentlich praktisch war, da sie dafür sorgten, dass sich eine Wunde schneller schließt. Andere Gene verbesserten die Immunabwehr gegen Bakterien, Pilze und Parasiten, die in dem neuen Lebensraum vorkamen. Wieder andere Gene optimierten den Fettstoffwechsel, so dass die Träger dieser Gene die ihnen zur Verfügung stehende Nahrung besser verwerten und so eher mit der Kälte im Norden klar kommen konnten. Dazu kamen noch Gene, die ihre Besitzer mit einer dickeren Haut und dichteren Haaren ausstatteten. Wieder andere Gene der Neandertaler verliehen unseren Vorfahren eine hellere Haut, mit deren Hilfe der aus Afrika stammende, dunkelhäutige Homo sapiens bei der geringeren Sonneneinstrahlung im Norden besser Vitamin D herstellen konnte. Stellt die Hautfarbe eines Menschen doch eine Anpassung an den Breitengrad dar, in dem er lebt. Die genetische Vermischung mit dem Neandertaler verlieh unseren Vorfahren also einen regelrechten Evolutionssprung. Denn hätte Homo sapiens all diese Anpassungen selbst durch Mutation und Selektion entwickeln müssen, hätte er viele länger gebraucht, um sich an die neuen Lebensbedingungen in Europa anzupassen. Dieser sogenannte Heterosiseffekt ist auch aus der Pflanzen und Tierzucht bekannt. Demnach sind Mischlinge oft leistungsfähiger, größer und robuster, als ihre reinerbigen Eltern.
Noch heute trägt jeder von uns modernen Menschen zwischen 1% und 4% Neandertalergene in sich. Wobei jeder von uns über andere Neandertalergene verfügt. So überlebten in allen Europäern zusammen insgesamt ein Fünftel aller Neandertalergene.
Als der Homo sapiens dann unter klimatisch günstigeren Bedingungen vor rund 42.000 Jahren nach Europa aufbrach, ging die Zahl der dort lebenden Neandertaler allmählich immer weiter zurück. Vor 39.000 Jahren waren nur noch wenige Individuen im Süden Europas übrig. Und vor 30.000 Jahren existierte er nicht mehr. Die damalige Zeit war von starken Klimaschwankungen und dem Ausbruch eines Supervulkans geprägt. Ob es diese Klimakapriolen waren, die dem Neandertaler so stark zusetzten, dass er schließlich von der Bühne der Menschheitsgeschichte verschwand, ob es zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Menschenformen kam oder ob der Neandertaler einfach in der inzwischen wesentlich größeren Population des sich schneller vermehrenden Homo sapiens aufging, ist bisher noch nicht klar. Jedenfalls erwies sich der Homo sapiens als die erfolgreichere der beiden Menschenformen und breitete sich in der Folge über den gesamten Globus aus. Einer der Gründe für das Aussterben des Neandertalers könnte auch das Konkurrenzauschlussprinzip sein, nach dem nicht zwei Arten die gleiche ökologische Nische besetzen können, ohne sich gegenseitig Konkurrenz zu machen, was schließlich zum Aussterben der schwächeren der beiden Arten führt.
Jahrtausende lang lebte der Homo sapiens als Jäger und Sammler in Europa und den anderen Gebieten der Erde, die er sich bereits erschlossen hatte. Er jagte in den nördlichen Breiten Großwild, wie Mammuts, Wollnashörner und nach der Eiszeit Auerochsen und Wildpferde. Als Jagdkumpan domestizierte er sich früh den Wolf. Über die Jahrtausende dezimierte er schließlich die Populationen an jagbarem Wild immer stärker, bis er dazu übergehen musste, Tiere selbst zu züchten und Ackerbau zu betreiben. In Anatolien und Mesopotamien ging die neolithische Revolution mit der Entwicklung komplexer religiöser Vorstellungen und dem Bau gewaltiger Tempelanlagen einher. Doch anders als der Begriff suggeriert, wandelte sich das Leben der Menschen nicht durch eine abrupte Veränderung, sondern der Prozess der Sesshaftwerdung begann vor rund 12.000 Jahren und zog sich über mehrere Jahrtausende hin. Die ersten Ackerbaukulturen entwickelten sich im sogenannten fruchtbaren Halbmond im Nahen Osten. Die dort niedergelassenen Menschen züchteten die Getreide Gerste, Einkorn und Emmer, sowie Hülsenfrüchte, wie Erbsen und Linsen. Als Haustiere domestizierten sie zunächst Ziegen, dann Schafe und später Rinder und Schweine.
Diese kulturellen Errungenschaften verbreiteten sich vom fruchtbaren Halbmond aus zunächst über die griechischen Inseln und schließlich über ganz Europa. Wobei nicht nur die kulturellen Techniken wanderten, sondern auch die Menschen, die diese beherrschten. Sie brachen vor mehr als 9.000 Jahren in Richtung Westen auf und errichten Mittel- und Westeuropa vor etwa 7.500 Jahren. Genetisch sind die frühen Bauern aus Ungarn, Deutschland und Spanien fast identisch. Was ihren gemeinsamen Ursprung bestätigt. Sie versorgten die Europäer mit einer helleren Haut, da die Bauern nicht mehr so viel Fleisch aßen, wie die Jäger und Sammler und daher darauf angewiesen waren, selbst durch die UV-Einwirkung auf die Haut mehr Vitamin-D herzustellen. Bisher hatten die Jäger und Sammler eine eher relativ dunkle Haut, aber dafür meist helle, manchmal sogar blaue Augen.
Die eingewanderten Bauern vermehrten sich wegen der besseren Nahrungsversorgung durch die Landwirtschaft schneller, als die dort bisher lebenden steinzeitlichen Jäger und Sammler. Denn die Frauen der Jäger und Sammler können wegen dem knappen Nahrungsangebot nicht schwanger werden, solange sie noch ein Kind stillen. Während diese Limitation bei Bauersfrauen, wegen dem zuverlässigeren Nahrungsangebot nicht der Fall ist. Doch die Bauern waren den Jägern und Sammlern vermutlich auch technologisch und kulturell überlegen, da sie aus kulturell höher entwickelten Regionen zuwanderten. Dadurch wurden die Jäger und Sammler im Lauf der Zeit immer weiter durch die Bauern zurück gedrängt. Doch vor 6.000 bis 5.000 Jahren stieg der Anteil des Jäger und Sammler Genoms wieder an. Da die Jäger und Sammler bis zu 20% der Gene von uns heutigen Europäern beisteuerten, muss diese Gruppe allmählich in den bäuerlichen Gemeinschaften aufgegangen sein. Die Gene der frühen Bauern machen heute rund 50% unseres Genoms aus.
Fehlen also noch rund 30% unseres Erbgutes. Dieser Anteil unserer Gene weist Ähnlichkeiten mit Sibiriern und sogar den ersten amerikanischen Indianern auf. Sie stammen von einer vierten Einwanderungswelle, die sich vor etwa 4.500 Jahren ereignete. Genetiker fanden eine massive Übereinstimmung zwischen den Jamnaja in der Pontisch-Kaspischen Steppe und den Schnurkeramikern in Sachsen Anhalt: Sie betrug 75%. Die Jamnaja waren Viehhirten, die mit ihren schweren Planwagen vor 4.500 Jahren sowohl nach Westen in Richtung Europa, als auch nach Osten in Richtung Indien wanderten.
Als die Jamnaja gen Europa zogen reiste eine Krankheit mit ihnen, gegen die die damaligen Europäer noch nicht gewappnet waren: Die Pest. Deshalb könnte die Ankunft der Reiternomaden in Europa einen Populationseinbruch der ursprünglichen, europäischen Bevölkerung ausgelöst haben. Ähnlich, wie dies bei der Eroberung von Amerika durch die Europäer mehrere Jahrtausende später der Fall sein sollte, bei der die Mehrzahl der Indianer nicht durch die Schwerter der Invasoren, sondern durch die Infektionskrankheiten dezimiert wurde, die die Neuankömmlinge mitbrachten.
Die Wanderung der Jamnaja nach Westen erfolgte vermutlich vorwiegend durch junge Männer, die sich einen neuen Lebensraum erobern wollten. Auch hier gibt es Parallelen zur Eroberung Südamerikas durch die Spanier und Portugiesen. In Mitteleuropa vermischten sich die Jamnaja mit der ursprünglichen Bevölkerung. Das mag auch damit zusammen hängen, dass bei den Einwanderern auf eine Frau neun Männer kamen. In England ersetzten die Einwanderer jedoch 90% der einheimischen Bevölkerung. Und in Spanien hatten nach der Invasion der Jamnaja alle Nachfahren fortan nur noch Jamnaja-Väter. Die einheimischen Männer wurden von ihnen offenbar entweder versklavt oder im Kampf getötet. Sardinien blieb dagegen von den Jamnaja völlig unbehelligt. Die Sarden sind bis heute noch am engsten mit den im Neolithikum aus dem Nahen Osten eingewanderten Bauern verwandt. Und auch nach Sizilien und ins Baskenland gelangten nur wenige Jemnaja.
Genetisch verdanken wir den Jamnaja das Laktase-Gen, das Erwachsenen zu einer Laktosetoleranz verhilf, so dass sie Milchzucker abbauen könnent. Zwar war es auch bei den Jamnaja noch relativ selten, als sie nach Europa einwanderten. Doch das Gen muss einen solch massiven Vorteil für seinen Träger gehabt haben, dass es inzwischen bei 70% der europäischen Bevölkerung vorhanden ist. Es ist bisher das Gen des Menschen, bei dem sich die stärkste positive Selektion nachweisen lässt.
Die Reiternomanden sind auch gute Kandidaten für den Ursprung der indogermanischen Sprachfamilie. Da sie sich vor 4.500 Jahren von der Pontischen Steppe aus nach Westen in weiten Teilen Europas und im Osten bis ins Altai Gebirge ausbreiteten, könnten sie auf diesem Wege die indogermanische Sprache verbreitet haben.
Migration ist also schon seit der Frühgeschichte der Menschheit immer wieder für gesellschaftliche Umwälzungen verantwortlich gewesen. Sie brachte neue genetische Anpassungen und Vielfalt, kulturelle und technologische Neuerungen, aber mitunter auch Beeinträchtigungen für die bisher ansässige Bevölkerung mit sich. Wobei sie genauso viele Chancen, wie Risiken birgt. Ohne sie wären wir derzeitigen Menschen nicht das, was wir heute sind. Bei den heutigen Einwanderungswellen wäre es aber durchaus sinnvoll darauf zu achten, dass wir einen guten Mix beibehalten und nicht einzelne Gruppen eine zu große Minderheit bilden. Und andererseits sollte bei der Zuwanderung Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Männern und Frauen gelegt werden.
von Ute Keck, 27. Juni 2019
Quellen, sowie weitere Informationen:
Geheimnis Neandertaler – wie NRW Menschheitsgeschichte schrieb
Die genetische Herkunft der Europäer: Biologische Anpassung und Mobilität in der Vorgeschichte
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