Der Mensch verfügt bei jedem seiner Gene über zwei Varianten – dabei stammt jeweils eines von der Mutter und eines vom Vater. Diese zwei Varianten ergänzen sich gegenseitig. Ist eines dieser Gene durch eine Mutation geschädigt, so kann die zweite Variante den Defekt unter Umständen ausgleichen. Wissenschaftler haben nun das Erbgut mehrerer hundert Menschen untersucht und dabei die Erbinformation der beiden Chromosomensätze getrennt voneinander entschlüsselt. Selbst in dieser relativ kleinen Gruppe fanden die Forscher Millionen unterschiedlicher Genvarianten. Darüber hinaus sind die genetischen Mutationen nicht zufällig auf den beiden elterlichen Chromosomensätzen verteilt, sondern folgen in jedem Menschen dem gleichen Muster.
2001 wurde die Entschlüsselung des ersten menschlichen Genoms abgeschlossen. Inzwischen sind tausende weiterer hinzu gekommen. Dabei sind die Preise für eine Erbgutanalyse immer weiter gefallen. Bald wird die Sequenzierung einen kompletten menschlichen Genoms weniger als 1000-Dollar kosten. Bei dieser rasanten Entwicklung wird schnell übersehen, dass die eingesetzte Technik nur ein Gemisch der Erbinformation ausliest. Denn die heute verbreiteten Analyseverfahren berücksichtigen nicht, dass jeder Mensch zwei Varianten seines Erbguts besitzt. „Damit lassen sie eine wesentliche Eigenschaft des menschlichen Genoms unter den Tisch fallen. Es ist aber beispielsweise entscheidend zu wissen, wie Mutationen auf den Chromosomensätzen verteilt sind“, sagt Margret Hoehe vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik.
Hoehe und ihr Team haben molekulargenetische und bioinformatische Methoden entwickelt, mit denen sie die beiden Chromosomensätze eines Menschen getrennt voneinander sequenzieren können. Die Forscher haben die mütterlichen und väterlichen Anteile des Erbguts von 14 Personen entschlüsselt und ihre Analysen mit dem Erbgut von 372 Europäern aus dem 1000-Genome-Projekt ergänzt. „14 Personen klingt nicht viel, aber angesichts der technischen Herausforderung eine weltweit bislang unerreichte Anzahl“, so Hoehe.
Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten Gene in einer Bevölkerung in vielen unterschiedlichen Varianten vorkommen: Im Durchschnitt liegt jedes Gen in 250 verschiedene Varianten vor. Schon bei den knapp 400 untersuchten Genomen kommt man dann auf etwa vier Millionen unterschiedliche Varianten eines einzigen Gens. Und diese Zahl wird umso größer, je mehr Menschen untersucht werden. Dabei scheint es für 85 Prozent aller Gene keine Hauptform zu geben, die in mehr als der Hälfte aller Individuen überwiegt. Diese ungeheure Vielfalt bewirkt, dass über die Hälfte aller Gene eines Menschen, also rund 9000 von 17500, so nur in dieser einen Person vorkommen – sie sind also im wahrsten Sinne individuell.
Das Standard-Gen, ist also entgegen der bisherigen Vorstellungen nicht die Regel sondern die Ausnahme. „Wir müssen unsere Sicht auf die Gene, wie sie seit Gregor Mendel jedes Schulkind lernen muss, grundlegend überdenken. Auch reicht die herkömmliche Betrachtung von Einzelmutationen nicht mehr aus. Wir müssen stattdessen die beiden Genformen und deren jeweilige Kombinationen von Varianten berücksichtigen“, erklärt Hoehe. Bei Erbgutanalysen sollten Wissenschaftler also jede der elterlichen Genvarianten individuell untersuchen, aber auch das Zusammenwirken der beiden Genformen nicht außer Acht lassen.
Wie die Forscher herausfanden sind Mutationen von Genen nicht zufällig zwischen den elterlichen Chromosomen verteilt. Sie betreffen in 60 Prozent der Fälle nur eine der beiden Genvarianten und in 40 Prozent der Fälle beide Varianten – Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von cis– und trans-Mutationen. Offenbar muss ein Organismus mehr cis-Mutationen aufweisen, bei denen die zweite Genform intakt bleibt. „Es ist erstaunlich, wie präzise das 60:40-Verhältnis eingehalten wird. Es tritt im Genom eines jeden Menschen auf – fast wie in einer magischen Formel“, sagt Hoehe. Der Verteilungsschlüssel von 60:40 scheint unverzichtbar für das Überleben zu sein. „Mit dieser Formel können wir möglicherweise verstehen, wie die Variabilität der Gene entsteht und wie sie deren Funktion beeinflusst.“
Ein Teil der vielen Mutationen, die das Erbgut verändern, wirken sich auch auf Proteinebene aus. Die Forscher haben nun einen Satz von rund 4000 Genen identifiziert, der durch Mutationen so verändert wird, dass seine Proteine in menschlichen Organismen besonders häufig in zwei unterschiedlichen Formen vorliegen. Die meisten dieser Gene spielen eine Rolle bei der Kontrolle der Signalübertragung zwischen Zellen, im Immunsystem und der Regulation der Genaktivität. Dank dieses Konzepts der doppelten Gen- bzw. Proteinausstattung kann die Aktivität der Gene flexibler reguliert und verändert werden. Durch Einsatz der jeweils vorteilhafteren Variante kann sich der Organismus besser an veränderte körpereigene Prozesse und Umweltbedingungen anpassen. Wenn dieses sich gegenseitige Ergänzen, auch Komplementation genannt, der beiden Genvarianten nicht richtig funktioniert und die falsche Proteinform zum Einsatz kommt können Krankheiten entstehen. Wahrscheinlich befinden sich deshalb unter diesen 4000 Genen so viele Krankheitsgene.
Diese Erkenntnisse werden die Auswertung von Erbgut-Analysen und die Vorhersage von Krankheiten verändern. Auch die individualisierte Medizin darf nicht blind für die doppelte Ausstattung menschlicher Genome sein. „Unsere Untersuchungen auf Proteinebene zeigen, dass 96 Prozent aller Gene ein Spektrum von mindestens fünf bis 20 unterschiedlichen Proteinformen haben. Dies ergibt eine ungeheure individuelle Vielfalt an möglichen Wechselwirkungen zwischen den Genen und zeigt, wie groß die Herausforderung ist, individuell maßgeschneiderte Therapien zu entwickeln“, sagt Hoehe.
Bisher haben Forscher das Krankheitsrisiko nur anhand der An- oder Abwesenheit von Mutationen geschätzt. Es gibt aber erste Hinweise darauf, dass beispielsweise bei Krebs die falsche Verteilung einer Mutation die Ausprägung und den Verlauf der Krankheit bestimmt. Die Lage von Mutationen muss deshalb künftig in die Diagnostik, Vorhersage und Vorsorge von Krankheiten einfließen.
Max-Planck-Gesellschaft, 26. November 2014
Originalpublikation:
Margret R. Hoehe, George M. Church, Hans Lehrach, Thomas Kroslak, Stefanie Palczewski, Katja Nowick, Sabrina Schulz, Eun-Kyung Suk, Thomas Huebsch. Multiple haplotype-resolved genomes reveal population patterns of gene and protein diplotypes. Nature Communications, 26. November 2014. doi:10.1038/ncomms6569