Stellen sie sich vor, sie haben einen Untermieter. Als Gegenleistung befüllt er ihnen regelmäßig den Kühlschrank mit ihren Lieblingsspeisen. Doch ganz nebenbei produziert er auch noch eine Vielzahl an Giftstoffen. Bringt das nun mehr Schaden als Nutzen? Nicht notwendigerweise. Es kommt ganz darauf an, wozu er das Gift benutzt, wie eine internationale Forschergruppe für marine Mikrobiologie herausgefunden hat. Die Forscher untersuchten Tiefsee-Muscheln und deren mit ihnen in Symbiose lebende Bakterien. Doch das von den Mikroben gebildete Arsenal an Giftstoffen schadet den Muscheln keineswegs. Ganz Im Gegenteil, schützt es sie vor Fressfeinden.
Muscheln der Gattung Bathymodiolus gehören zur Familie der Miesmuscheln und leben häufig an heißen Quellen in der Tiefsee. In ihren Kiemen züchten sie so genannte chemoautotrophe Symbionten. Das sind beispielsweise Schwefelbakterien, die für die Muscheln nicht nutzbare Stoffe aus den heißen Quellen in begehrten Zucker umwandeln.
Jillian Petersen und ihre Kollegen vom Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie haben das Erbmaterial einiger Untermieter der Tiefseemuscheln unter die Lupe genommen. Wider Erwarten stießen sie dabei auf allerlei Gefahrenstoffe. Denn die symbiontischen Bakterien besitzen ein ganzes Arsenal an Genen, die der Herstellung von Giftstoffen dienen. Die Zahl dieser Toxine ist beeindruckend: Mit bis zu 60 Giften ist die Waffenkammer der Mikroorganismen besser gefüllt als die hochgefährlicher Keime wie etwa den Erregern von Pest und Cholera. Dennoch scheinen die Bakterien ihren Gastgebern nicht zu schaden. Wie ist das möglich?
“Wir vermuten, dass die Bakterien diese Toxine gezähmt haben”, erklärt Petersen. “Dadurch können sie sie nun zu ihrem Vorteil nutzen – und zum Vorteil ihres Gastgebers.” Dabei könnten die Giftstoffe gleich zwei verschiedenen Zwecken dienen: Zum einen können sie sowohl den Bakterien, als auch den Muscheln dabei helfen, ihren Symbiose-Partner zu erkennen und zu finden, um eine erfolgreiche Symbiose aufzubauen. Zum anderen dienen die Toxine vermutlich auch dazu, die Muscheln vor Fressfeinden zu schützen.
“Bisher bekannte Symbiosen haben meist nur einen Nutzen – entweder helfen die Symbionten ihren Wirten bei der Ernährung oder bei der Verteidigung gegen Fressfeinde. Die Partnerschaft von Bathymodiolus mit den Schwefelbakterien, die wir nun untersucht haben, liefert möglicherweise beides: Schutz und Nahrung. Das ist schon recht außergewöhnlich”, betont Lizbeth Sayavedra, die die Untersuchung zusammen mit Jillian Petersen im Zuge ihrer Doktorarbeit durchgeführt hat. Der Untermieter füllt also nicht nur den Kühlschrank, er bewacht auch noch die Wohnung.
In einem nächsten Schritt will Petersen erforschen, wie der Schutz durch die Bakterientoxine genau funktioniert. Für einen der Giftstoffe konnte bisher nachgewiesen werden, dass er tatsächlich im Gewebe der Muschel freigesetzt wird. “Unsere Ergebnisse geben der Forschung über die Rolle von Parasiten und Krankheitserregern in der Tiefsee ganz neue Impulse”, so Petersen, die seit Kurzem eine Nachwuchsgruppe an der Universität Wien leitet.
“Wir kennen bis heute keinen Krankheitserreger, der so viele vermeintlich schädliche Substanzen produziert”, fügt Liz Sayavedra hinzu. “Wer weiß – vielleicht stellen wir eines Tages fest, dass manche Gene, die heute als Giftproduzenten gelten, ursprünglich eine ganz förderliche Rolle in einer solchen Partnerschaft spielten.”
Max-Planck-Gesellschaft, 18. September 2015
Originalpublikation:
Sayavedra et al. Abundant toxin-related genes in the genomes of beneficial symbionts from deep-sea hydrothermal vent mussels. eLife 2015;10.7554/eLife.07966