Vor sechs bis zehn Millionen Jahren war der Nordpol im Sommer eisfrei und das Wasser hatte eine Temperatur zwischen vier und neun Grad Celsius. Das haben Forscher nun anhand eines Sedimentkerns aus der zentralen Arktis entdeckt, mit dem sie die Meereseisbedeckung des Ozeans für die letzten 50 Millionen Jahre rekonstruieren konnten.
Das arktische Meereseis stellt eine ausgesprochen kritische und sensitive Komponente des globalen Klimasystems dar. Deshalb ist es wichtig, die Ursachen von Änderungen des Meereseises besser zu verstehen. Am Westhang des Lomonossow-Rückens, einem großen Unterseegebirge in der zentralen Arktis, fanden die Wissenschaftler eine ideale Stelle zur Probennahme. An diesem Hang gab es in der Vergangenheit immer wieder gigantische Erdrutsche. Dadurch wurden die darunterliegenden, sehr alten Sediment- und Gesteinsformationen aus einer Tiefe von über 500 Metern freigelegt. Diese Abrisskanten erstrecken sich über eine Länge von über 300 Kilometern fast vom Nordpol bis zum Südende des Rückens auf der sibirischen Seite.
Sedimentkern entpuppt sich als einzigartiges Klimaarchiv
Zwei Tage lang nahmen der Geologe Rüdiger Stein vom Alfred-Wegener-Institut und sein Team damals von Bord des Forschungsschiffes Polarstern aus Bodenproben. Die gewonnenen Sedimentkerne waren zwar nur vier bis acht Meter lang, einer davon entpuppte sich jedoch als genau das Klimaarchive, nach dem die Forscher lange gesucht hatten. Mit Hilfe von Mikrofossilien, in diesem Fall Dinoflagellaten, konnten die Forscher den unteren Teil des Kerns eindeutig einem Zeitraum vor sechs bis zehn Millionen Jahre zuordnen. Er stammt also aus dem späte Miozän. Mit Hilfe sogenannter Anzeiger oder Proxies gelang es ihnen die Klimabedingungen im zentralen Arktischen Ozean für diesen Zeitabschnitt zu rekonstruieren. Bisher gab es für das späte Miozän nur sehr vage und widersprüchliche Informationen.
So sind denn manche Forscher der Meinung, der zentrale Arktische Ozean sei bereits vor sechs bis zehn Millionen Jahren ganzjährig durch eine Meereseisschicht bedeckt gewesen – und zwar in ähnlichem Ausmass, wie dies auch heute noch der Fall ist. Diese Annahme konnten die Forscher nun widerlegen. „Unsere Daten weisen eindeutig darauf hin, dass vor sechs bis zehn Millionen Jahren der Nordpol und der gesamte zentrale Arktische Ozean im Sommer eisfrei gewesen sein müssen“, sagt Rüdiger Stein.
Biomarker im Meeresboden geben Einblick in Klimavergangenheit
Das belegen organische Verbindungen (sogenannten Biomarker), die von Organismen aufgebaut wurden, die damals den Ozean bevölkerten und deren Überreste bis heute in den Sedimentablagerungen erhalten geblieben sind. Die Forscher konnten zwei dieser Marker-Gruppen aus den Bodenproben extrahieren:
- Kalkalgen, die im Oberflächenwasser leben, also offenes Wasser brauchen, und als Pflanzen vom Licht abhängig sind. Da im zentralen Arktischen Ozean nur während der Frühling- bis Sommermonate Sonnenlicht zur Verfügung steht und es dort während der übrigen Monate stockfinster ist, geben die Daten dieser Kalkalgen Informationen über die Oberflächenwasserverhältnisse im Sommerhalbjahr
- Von den Kalkalgen gebildete Biomarker-Moleküle: Sie bilden je nach Wassertemperatur ganz unterschiedliche Biomarker. Anhand dieser Moleküle lässt sich berechnen, wie warm die Temperatur des Oberflächenwassers im Arktischen Ozean war. Die Forscher kamen dabei auf etwa 4 bis 9 Grad Celsius. Werte, die deutlich über Null liegen. Das Wasser muss also eindeutig im Sommer eisfrei gewesen sein.
Allerdings war der Arktische Ozean keineswegs das ganz Jahr über eisfrei. Vom Winter bis zum Frühjahr schloss sich die Decke des Meereseises wieder. Rund um den Nordpol muss damals also eine ähnliche saisonale Schwankung der Eisdecke bestanden haben, wie wir sie noch heute in den Arktischen Randmeeren finden.
Daten helfen Klimamodelle zu optimieren
Die neuen Erkenntnisse lassen sich auch durch Klimasimulationen bestätigen. Das ist jedoch nur unter der Annahme eines relativ hohen atmosphärischen Kohlendioxid-Gehalts von 450 ppm der Fall. Wird in die Klimamodelle dagegen der wesentlich niedrigerer Kohlendioxid-Gehalt von circa 280 ppm eingespeist, wie es bei einigen Studien für das späte Miozän der Fall war, lässt sich eine eisfreie Arktis nicht simulieren. Ob der Kohlendioxid-Gehalt im Miozän wirklich so hoch war, oder ob die miozänen Klimasimulationen eine zu geringe Sensitivität in der Arktis aufweisen, wird zur Zeit international untersucht. Dabei soll auch die Vorhersagefähigkeit der Klimamodelle verbessert werden. Rüdiger Stein: „Wenn unsere Klimamodelle die Meereisbedeckung früherer Zeiträume zuverlässiger reproduzieren können, werden wir auch in der Lage sein, genauere Prognosen über künftige Klima- und Meereisschwankungen in der zentralen Arktis zu geben.“
Weitere Sedimentkern-Bohrung am Lomonossow-Rücken geplant
Doch wie immer in der Forschung sind die Ergebnisse nur ein erster Schritt, dem weitere wichtige folgen müssen. „Unsere neuen Sedimentkerne ermöglichen zwar einen ersten ungeahnten Einblick in die frühe Klimageschichte der Arktis. Diese Klimaaufzeichnungen bleiben jedoch nur sehr lückenhaft. Um aber das große Geheimnis über die Klimaentwicklung der Arktis und deren Ursachen im Verlauf der letzten 20 bis 60 Millionen Jahre vollständig zu lüften, werden mächtigere kontinuierliche Sedimentabfolgen benötigt, wie sie nur durch Bohrungen zu bekommen sind. Eine derartige Bohrung in der Arktis, nach wie vor eine große wissenschaftliche und technische Herausforderung für die marinen Geowissenschaften, ist jetzt in unserem Untersuchungsgebiet des Lomonossow-Rückens für das Jahr 2018 geplant und soll im Rahmen des internationalen Bohrprogramms IODP (International Ocean Discovery Program) durchgeführt werden. Für die Festlegung der Bohrlokationen haben dabei die Vorerkundungen unserer Polarstern-Expedition entscheidend mit beigetragen“, erklärt Rüdiger Stein, der auch einer der Expeditionsleiter der IODP-Kampagne im Jahr 2018 sein wird.
Alfred-Wegener-Institut, 04. April 2016
Originalpublikation:
Ruediger Stein, Kirsten Fahl, Michael Schreck, Gregor Knorr, Frank Niessen, Matthias Forwick, Catalina Gebhardt, Laura Jensen, Michael Kaminski, Achim Kopf, Jens Matthiessen, Wilfried Jokat, and Gerrit Lohmann: Evidence for ice-free summers in the late Miocene central Arctic Ocean, Nature Communications 7: 11148, doi:10.1038/ncomms11148.