Noch kann man überall auf den Feldern verliebte Rehe beobachten. Doch bald ist das Liebesspiel unserer kleinsten einheimischen Hirschart vorbei: Dann verlieren die Böcke die Lust am Liebesspiel, denn viele der Ricken sind bereits trächtig. Doch bis ihr Kitz geboren wird, gehen viele Monate ins Land: Denn sie erblicken erst im Mai nächsten Jahres die Welt. Hinter der verzögerten Geburt steckt ein Naturphänomen, das auch andere heimische Arten nutzen: Obwohl die Ricke im Sommer befruchtet worden ist, beginnt der Embryo erst im Winter mit seiner Entwickelung. Dieser Trick der Natur heißt im Fachjargon Keimruhe.
Nach der Befruchtung teilt sich die Eizelle zunächst und nistet sich in die Gebärmutter ein. Doch sie wird zunächst nicht viel größer als einen Millimeter und entwickelt sich in den ersten 18 Wochen kaum weiter. Über Monate hinweg trägt die Ricke einen kleinen Embryo in ihrem Körper mit sich herum, der nicht weiterwächst. Erst ab Dezember beginnen seine eigentliche Entwicklung und sein Wachstum.
Aufgrund der etwa viereinhalbmonatigen Entwicklungspause wird das Kitz erst nach rund 285 Tagen geboren. Damit verhindern die Rehe, dass ihre Jungen im Winter auf die Welt kommen, wenn es viel zu kalt ist und ihre Mütter kaum eiweißreiche Nahrung finden, um Energie für die Milchproduktion zu gewinnen. Im Mai, mit seinem frischen Grün sind die Aufzuchtbedingungen dagegen optimal – und das Kitz kann wachsen und gedeihen.
Das Prinzip der Keimruhe nutzen nicht nur unsere Rehen. Auch Dachse, Marder, Hermeline, Seehunde, Fischotter und Braunbären bedienen sich dieses „Tricks der Natur“, um ihren Nachwuchs unter den besten Bedingungen groß zu ziehen. Besonders lang dauert die Keimruhe bei Beuteltieren.
Deutsche Wildtier Stiftung, 10 August 2016