Eislawinen durch Gletschervorstösse sind seltene Ereignisse. Den Kollaps zweier benachbarter Gletscher innerhalb von nur zwei Monaten – wie soeben im Tibet erfolgt – hat man bislang noch nie beobachtet. Forscher werteten rasch Satellitenbilder aus und versuchten, vor dem zweiten Kollaps zu warnen.
Am 17. Juli 2016 kollabierte ein Gletscher nahe dem Aru Co-See in West-Tibet und löste eine Eislawine von rund 65 Mio. Kubikmetern aus. Sie riss neun Hirten und hunderte Tiere in den Tod [1]. Das Ausmass der Katastrophe überraschte selbst Wissenschaftler. Warum verliert ein relativ flacher Gletscher den Kontakt zu seiner Basis und verursacht eine derart grosse Lawine? Bis zum 17. Juli war das einzige ähnliche bekannte Ereignis die Kolka-Karmadon-Eislawine im russischen Kaukasus, welche sich am 20. September 2002 ereignete und über 100 Menschen das Leben kostete [2]. Wegen der Seltenheit solcher Ereignisse konnte sich niemand vorstellen, dass nur zwei Monate nach dem ersten Kollaps vom Juli 2016 ein weiterer angrenzender Gletscher auf ähnliche Weise abbrechen würde.
Mit vereinten Kräften den Ursachen auf der Spur
Um die Ursache der ersten Eislawine vom 17. Juli zu verstehen, haben wir – ein internationales Team von Forschenden der ETH, der WSL (SLF) [3] sowie der GAPHAZ-Kommission (Glacier And Permafrost Hazards In Mountains) [4] – begonnen, die dem Kollaps vorrangehende Entwicklung des Gletschers zu untersuchen und die verursachte Eislawine zu charakterisieren. Dazu analysierten wir zahlreiche Satellitenbilder und versuchten, die Lawine mit der am SLF entwickelten Simulationssoftware RAMMS (Rapid Mass Movements) [5] zu reproduzieren.
Um präzise Höhenprofile des Gletschers aus der Zeit vor dem Abbruch zu erzeugen, analysierten wir Radaraufnahmen der vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) geleiteten Satellitenmission «TanDEM-X». Dabei stiessen wir auf eindeutige Hinweise, dass sich der Gletscher vor dem Kollaps in einem sogenannten «Surge»-Stadium befunden hat. Ein Gletscher-«Surge» ist ein temporär instabiler Zustand, während dem «überschüssige» Eismassen vom oberen Teil des Gletschers relativ schnell talwärts bewegt werden. Der Gletscher nahm dadurch massiv an Geschwindigkeit auf und stiess in knapp zehn Monaten um mehr als 200 Meter vor. Gletscher-«Surges» kommen in einigen Regionen der Welt, etwa im Karakorum-Gebirge oder in Alaska, verbreitet vor, sind in Tibet jedoch recht selten. Auch kommen «surgende» Gletscher meist wieder zur Ruhe. Bis zum Juli 2016 war nicht bekannt, dass Gletscher in diesem Zustand vollständig kollabieren und dermaßen gewaltige Eislawinen auslösen können.
Weitere Auswertungen von Radardaten des Satelliten «Sentinel 1» der Europäischen Weltraumorganisation ESA zeigten, dass der «Surge» nach der Schneeschmelze im September 2015 begonnen hatte. Dabei blieb der Gletscher aber möglicherweise in einem engen Tal «stecken» und bildete einen Damm aus Eis. Wir vermuten, dass sich hierdurch viel Wasser unter dem Gletscher ansammeln konnte, wo es mangels Abflussmöglichkeit als «Schmiermittel» wirkte und schliesslich den stützenden Damm zum Bersten brachte.
Hinweis für einen «Surge» beim zweiten Gletscher
Zu unserer Überraschung offenbarte die Analyse der Höhenprofile, dass ein angrenzender Gletscher von verblüffend ähnlicher Form – sozusagen der «südliche Zwilling» des kollabierten Gletschers – ebenfalls die charakteristischen Merkmale eines «Surges» aufwies. Nur wenige Tage später, als eine sehnlichst erwartete Aufnahme vom 19. September 2016 des «Sentinel 2»-Satelliten der ESA zur Verfügung stand, blieb uns fast das Herz stehen: Offensichtlich löste sich das Gletschereis des «südlichen Zwillings» von seiner Basis, was zahlreiche neue Gletscherspalten aufbrechen liess. Das Muster der Spalten bildete eine mehrere Kilometer lange Linie, nahezu identisch der Anrisslinie entlang welcher der «nördliche Zwilling» abgebrochen war. Rasch war klar, dass ein zweiter Gletscherkollaps unmittelbar bevorstehen könnte.
Nach kurzer Beratung mit Daniel Farinotti (VAW und WSL) modellierten Yves Bühler und Kollegen (SLF) das Risiko einer neuen Eislawine. Gemeinsam erstellten wir eine Gefahrenkarte. Koordiniert durch die GAPHAZ-Kommission wurde die Warnung auf schnellstem Weg an chinesische Wissenschaftler und die lokalen Behörden in Tibet weitergeleitet. Nur wenige Stunden später, am 22. September 2016, meldeten die chinesischen Wissenschaftler den Zusammenbruch des zweiten Gletschers mit einer weiteren gigantischen Eislawine – ein doppelte Gletscherkollaps – soetwas hat es in der bekannten Geschichte bis dahin noch nie gegeben. Zur Erleichterung aller wurde durch die zweite Lawine niemand verletzt, obwohl die Warnung bei den lokalen Behörden um wenige Stunden zu spät eintraf.
Auf der Suche nach Erklärungen
Die Nachricht der tibetischen Kollegen über den Zusammenbruch des zweiten Gletschers traf alle beteiligten Wissenschaftler wie ein Schock – zu unwahrscheinlich war ein doppelter Gletscherkollaps. Gemeinsam untersuchen wir nun die Ursachen und Auslöser, die den mysteriösen Fall dieses Zwillings-Kollaps erklären könnten. Unser Schwerpunkt gilt dabei insbesondere der Frage, weshalb zwei benachbarte Gletscher derart zeitnah und auf ähnliche Weise abbrechen konnten. Das Doppelereignis deutet darauf hin, dass geologische und topografische Faktoren, meteorologische Bedingungen und – höchstwahrscheinlich – die jüngsten Klimaveränderungen eine Rolle spielen.
Der Zwillings-Kollaps mag brisant in der aktuellen Klimadebatte klingen und ist sicher kein erfreuliches Ereignis. Die Tatsache jedoch, dass verschiedene Satellitenaufnahmen nur wenige Stunden verzögert analysiert werden konnten, ist ein Meilenstein in der Entwicklung von Frühwarnsystemen und zeigt die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit auf.
Silvan Leinss hat diesen Beitrag zusammen mit Daniel Farinotti verfasst.
Dr. Silvan Leinss, ETH Zürich, 30 September 2016
Weiterführende Informationen
[1] Nature news: Giant, deadly ice slide baffles researchers
[2] Stephen G. Evans, et al, “Catastrophic detachment and high-velocity long-runout flow of Kolka Glacier, Caucasus Mountains, Russia in 2002”, Geomorphology, Vol. 105, Issues 3–4, (2009).
[3] Beteiligt waren die «Earth Observation and Remote Sensing Group» und die Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) der ETH Zürich sowie das Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF der WSL.
[4] Glacier and Permafrost Hazard in Mountains GAPHAZ
[5] Rapid Mass Movements RAMMS