Wissenschaftlern gelang es nun erstmals die Wintertemperatur-Entwicklung im sibirischen Lena-Delta zu rekonstruieren. Dazu setzten sie eine geochemische Methode aus der Gletscherforschung ein, um Klimadaten aus Jahrtausende altem Permafrost-Grundeis zu gewinnen. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis: In den zurückliegenden 7000 Jahren ist die Wintertemperatur in den sibirischen Permafrostregionen langfristig gestiegen. Den Grund für diese Erwärmung sehen die Forscher in einer sich ändernden Stellung der Erde zur Sonne. Seit dem Beginn der Industrialisierung verstärkt sich dieser Effekt massiv durch den steigenden Ausstoß von Treibhausgasen.
Gletscher sucht man im russischen Lena-Delta vergeblich. Anders als in der Antarktis oder Grönland bildet sich das Eis in der sibirischen Tundra nicht oberirdisch an den Berghängen oder auf Hochplateaus. Sondern es entsteht als keilförmiger Eiskörper direkt im Untergrund.
„Eiskeile sind ein typisches Merkmal der Permafrostregionen. Sie entstehen, wenn sich der dauerhaft gefrorene Boden im Winter aufgrund der großen Kälte zusammenzieht und an bestimmten Stellen aufreißt. Schmilzt dann im Frühjahr der Schnee, rinnt das Schmelzwasser in diese Risse. Bei einer Bodentemperatur von etwa minus zehn Grad Celsius gefriert es dort jedoch sofort wieder. Wiederholt sich dann dieser Prozess in den darauffolgenden Wintern, entsteht im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ein Eiskörper, der an einen riesigen Keil erinnert“, sagt Hanno Meyer, Permafrost-Forscher am Alfred-Wegener Insitut in Potsdam.
Mit bis zu 40 Metern Tiefe und maximal sechs Metern Breite sind die Eiskeile in der sibirischen Arktis zwar bei weitem nicht so mächtig wie ein antarktischer Gletscher. Aber die teilweise mehr als 100 000 Jahre alten Eiskörper speichern Klimainformationen in gleicher Weise und können daher von Wissenschaftlern mit den Methoden der Gletscherforschung untersucht werden. „Das Schmelzwasser stammt jeweils vom Schnee eines Winters. Gefriert es in der Frostspalte, werden daher Informationen über die Wintertemperatur in jenem Jahr mit eingeschlossen. Uns ist es nun erstmals gelungen, diese im Eis gespeicherten Temperaturinformationen mithilfe der Sauerstoff-Isotopenanalyse zu einer Klimakurve für die vergangenen 7000 Jahre zusammenzufassen“, so Thomas Opel.
Die neuen Daten sind die ersten eindeutig datierten Wintertemperaturdaten aus der sibirischen Permafrostregion und zeigen einen klaren Trend: „In den zurückliegenden 7000 Jahren sind die Winter im Lena-Delta kontinuierlich wärmer geworden – eine Entwicklung, die wir so bisher aus kaum einem anderen arktischen Klimaarchiv kennen“, sagt Hanno Meyer. Denn: „Bisher wurden vor allem fossile Pollen, Kieselalgen oder Baumringe aus der Arktis genutzt, um das Klima der Vergangenheit zu rekonstruieren. Sie aber speichern vor allem Temperaturinformationen aus dem Sommer, wenn die Pflanzen wachsen und blühen. Die Eiskeile stellen eines der wenigen Archive dar, in denen reine Winterdaten gespeichert werden“, erklärt der Permafrost-Experte.
Mit den neuen Daten schließen die Wissenschaftler zudem eine wichtige Forschungslücke: „Die meisten Klimamodelle zeigen für die zurückliegenden 7000 Jahre in der Arktis eine langfristige Abkühlung im Sommer sowie eine langfristige Erwärmung im Winter an. Für letztere aber gab es bisher keine Temperaturdaten, eben weil die meisten Klimaarchive hauptsächlich Sommerinformationen speichern. Jetzt können wir zum ersten Mal zeigen, dass Eiskeile ähnliche Winterinformationen enthalten wie sie von den Klimamodellen simuliert werden“, so Modellierer Thomas Laepple.
Um wie viel Grad Celsius genau die arktischen Winter wärmer geworden sind, können die Wissenschaftler bisher noch nicht in absoluten Zahlen sagen: „Das Ergebnis der Sauerstoff-Isotopenanalyse verrät uns zunächst nur, ob und wie sich das Isotopenverhältnis verändert hat. Steigt es, sprechen wir von einer relativen Erwärmung. Wie groß diese allerdings genau ausgefallen ist, können wir noch nicht ohne Weiteres sagen“, erklärt Thomas Opel.
Deutliche Hinweise fanden die Wissenschaftler bei der Suche nach den Ursachen der Erwärmung. Hanno Meyer: „Wir sehen in unserer Kurve eine klare Zweiteilung. Bis zum Beginn der Industrialisierung um das Jahr 1850 können wir die Entwicklung auf eine sich ändernde Position der Erde zur Sonne zurückführen. Das heißt, damals haben die Dauer und Intensität der Sonneneinstrahlung von Winter zu Winter zugenommen und auf diese Weise zum Temperaturanstieg geführt. Mit dem Beginn der Industrialisierung und dem zunehmenden Ausstoß von Treibhausgasen wie Kohlendioxid aber kam dann noch der vom Menschen verursachte Treibhauseffekt hinzu. Unsere Datenkurve zeigt ab diesem Zeitpunkt einen deutlichen Anstieg, der sich wesentlich von der vorgegangenen langfristigen Erwärmung unterscheidet.“
In einem nächsten Schritt wollen die Forscher nun überprüfen, ob dieselben Anzeichen für eine langfristige Winter-Erwärmung der Arktis auch in anderen Permafrostregionen der Welt zu finden sind. Thomas Opel: „Wir haben Daten aus einem Gebiet 500 Kilometer östlich des Lena-Deltas, die unsere Ergebnisse stützen. Wir wissen allerdings nicht, wie es zum Beispiel in der kanadischen Arktis aussieht. Wir vermuten, dass die Entwicklung dort ähnlich ist, belegen aber können wir diese Annahme noch nicht.“
Die Basisdaten der neuen Lena-Delta-Temperaturkurve stammen aus 42 Eisproben. Diese hatten die Wissenschaftler in mehreren Expeditionen von 13 Eiskeilen genommen, die der Fluss bei Hochwasser freigespült hatte. „In unserer Studie sind nur jene Proben eingegangen, deren Alter wir bestimmen konnten. Diese Arbeit fällt bei Eiskeilen zum Glück leicht, denn mit dem Schmelzwasser gelangen jede Menge Pflanzenreste und anderes organisches Material in das Grundeis – und deren Alter können wir mit der Radiokarbon-Methode sehr genau bestimmen“, so Hanno Meyer.
Alfred-Wegener-Insitut, 26. Januar 2015
Originalpublikation:
Hanno Meyer, Thomas Opel, Thomas Laepple, Alexander Yu Dereviagin, Kirstin Hoffmann und Martin Werner (2015): Long-term winter warming trend in the Siberian Arctic during the mid- to late Holocene, Nature Geoscience, Vol 8, DOI: 10.1038/ngeo2349